»Wenn man in New Orleans keinen Blues spielen konnte, kriegte man die Jobs bei den Schwarzen nicht«, erinnerte sich der Bassist Pops Foster, »und wenn man die Tänze der Cajuns nicht konnte, dann kriegte man bei denen keine Jobs. Den Weißen war es egal, was man spielte«.31 Die Tuxedo Band galt als Ragtime-Band, spielte keine Blues und trat deshalb weniger in der schwarzen Community, eher bei Shows und vornehmen Parties auf. Und doch sind die Aufnahmen von 1925 ein Beispiel dafür, wie die Tanzmusik der Zeit geklungen haben mag, die in größeren Tanzsälen oder auf den Mississippi-Dampfern gespielt wurde. Es ist allerdings das Tuxedo Orchestra, das wir hier hören, eine Besetzung mit Klavier und Banjo, und nicht eine der Marschkapellen, in der auch Armstrong in seiner Jugend durch die Stadt marschiert war.
Bei den Umzügen und Festen im Park ging es wilder zu, archaischer, Blues-durchtränkter. Um sich zu vergegenwärtigen, wie solche Bands geklungen haben mögen, muss man auf erheblich späteres Material zurückgreifen, Aufnahmen etwa der Eureka Brass Band von 1951 oder der Young Tuxedo Brass Band von 1958. Deren ›
Bourbon Street Parade‹ auf der LP JAZZ BEGINS wird von einer Marschkapelle mit drei Trompeten, drei Posaunen, Altsaxophon, Tenorsaxophon, hoher Es-Klarinette, Sousaphon, Snare- und Basstrommel im kollektiv improvisierten Zusammenspiel aller Instrumente vorgetragen. Die Klarinette und die Posaune haben dabei klare Rollenzuweisungen, die ein wenig von dem abweichen, was man sonst in diesem Genre erwarten würde: Insbesondere kommt hier die Leadfunktion der hohen Klarinette zu. Darunter fundiert die Posaune harmonisch oder verziert mit Tailgate-Partien, wirkungsvollen Glissandi, die mit lang ausholendem Posaunenzug gespielt werden. Das Sousaphon liefert die intensive rhythmische und harmonische Grundierung; die Trommler treiben das ganze voran. Die größte improvisatorische Freiheit hat der Trompeter, der sich in einem Solo über diesen kollektiven Klangteppich der Band erheben darf. So ähnlich mag geklungen haben, was Armstrong begeisterte, wenn er die Marschkapellen durch die Stadt ziehen sah.
In New Orleans, kommentiert Tom Stoddard in der von ihm herausgegebenen Autobiographie des Kontrabassisten Pops Foster, ging man durch verschiedene Stadien der Lehre, bevor man als professioneller Musiker ernst genommen wurde. Man begann als Amateur, bis man, wenn es gut lief, einen erfahrenen Musiker fand, der einen unter seine Fittiche nahm. Und wenn man talentiert und hartnäckig genug war, nahm der einen schon mal auf einen Gig mit und zahlte vielleicht sogar einen Dollar dafür. Das konnte eine Chance sein, denn die Bandleader buchten ihre Gigs meist selbst, und sie waren immer auf der Suche nach jungen Talenten. Nur wenige Musiker konnten allerdings von der Musik allein leben; die meisten hatten bürgerliche Berufe, »Friseur wie Buddy Bolden, Gipser wie Johnny St. Cyr, Klempner wie Alphonse Picou, Zigarrenmacher wie Manuel Perez, Schauermann wie Pops Foster«.32
1919 engagierte der Pianist und Bandleader Fate Marable Armstrong. Der hatte den älteren Musiker schon zuvor oft gehört, wann immer er zum Mississippi ging und der Dampforgel eines der Schaufelraddampfer zuhörte, die von Marable gespielt wurde, um potentielle Fahrgäste zu Ausflügen auf den Booten zu animieren. Die Streckfus-Reederei, für die Marable seit 1907 arbeitete, hatte 1889 als schwimmender Paketdienst begonnen und ab 1901 Ausflugsboote hinzugenommen, von denen es 1920 fünf Stück gab. Sie waren reine Veranstaltungsboote, beförderten weder Reisepassagiere noch Ladung. Sie fuhren den Mississippi auf und ab, von New Orleans über Natchez, Memphis, St. Louis bis nach Davenport, Iowa, wo die Schiffe meistens den Winter über festmachten. Es gab unterschiedliche Ausflugsprogramme, Tagestrips etwa, die morgens begannen und bis spätabends gingen, oder Nachtexkursionen von halb neun abends bis gegen Mitternacht. Es gab Riverboats, die jeden Tag zu ihrem Anlegeplatz zurückkehrten, und andere, die den Mississippi Hafen für Hafen abfuhren und an Orte, die keine eigenen Ballsäle besaßen, ein wenig Vergnügung brachten.
Die meisten der Bands, die in den Salons der Boote zum Tanz aufspielten, waren weiß, nicht anders als ihr Publikum. Die Ausnahme war der Montagabend, an dem jeweils eines der Boote nach St. Louis fuhr und die Band für ein schwarzes Publikum spielte. Am besten besucht waren die Wochenenden mit einer Tanzveranstaltung am Freitagabend, zwei am Samstag und mindestens einer weiteren am Sonntag.33 Wenn die Musiker länger auf dem Schiff unterwegs waren, erhielten sie 35 Dollar pro Woche plus Kost und Logis an Bord. Pops Foster, der zur selben Zeit in der Band war wie Armstrong, erinnert sich, dass der Job eigentlich recht angenehm gewesen sei: »Du spieltest Musik, die [den Streckfus-Leuten] gefallen musste, nicht dem Publikum. Solange die glücklich waren, hattest du einen Job.«34
Armstrong reiste drei Sommer lang mit Marable auf der »S. S. Sydney«. Wie schon das Barbershop Quartett seiner Jugend, seine Zeit im Colored Waif’s Home oder die Abende mit Joe Oliver, so war auch das Engagement bei Marable für ihn eine wichtige Schule. Anders als bei Kid Ory nämlich, der selbst nicht sonderlich notenfest war, wurde genau das von den Musikern auf dem Riverboat erwartet. Marable und der Mellophon-Spieler der Band, Davey Jones, halfen Armstrong dabei, notenfest zu werden, ein Übriges taten die täglichen Proben, die bis zu zwei Stunden dauern konnten und bei denen oft Captain Joe Streckfus persönlich vorbeischaute, um mit einer Uhr in der Hand das Tempo mitzustoppen – 70 Schläge die Minute für Foxtrotts, 90 für One-Steps. Genauso nützlich war eine andere Seite dieses Engagements: Bei Marable eignete Armstrong sich ein großes Repertoire aktueller Schlager- und Blueskompositionen an. Am Abend waren insgesamt 14 Nummern zu spielen, erinnerte sich Foster später, und alle zwei Wochen wechselte das Repertoire. Man konnte die Stücke ausdehnen, sie waren in der Regel also weit länger als die Beispiele solch früher Musik auf der zeitlich begrenzten Schellackplatte erahnen lassen. Die weißen Kapellen an Bord, die oft auch Geigen in ihren Reihen hatten, spielten eher seichte Musik; und auch Marable hatte Walzer und Polkas im Programm, daneben aber eben auch Ragtimes, Blues und andere Titel, die in New Orleans gerade populär waren. Seine Band galt als »schwimmendes Konservatorium«, durch das neben Armstrong und Foster auch zahlreiche andere Musiker gingen, der Trompeter Henry Red Allen etwa, der Gitarrist Johnny St. Cyr und die Schlagzeuger Baby Dodds und Zutty Singleton. Fate Marable ging 1924 mit seinen Society Syncopators für Plattenaufnahmen ins Studio, die deutlich auf den Charleston-verrückten Tanzmarkt gerichtet waren. ›
Pianoflage‹ ist ein gutes Beispiel, stark durcharrangiert und ohne nennenswerte Improvisation. Pops Foster jedenfalls, der bei diesen Aufnahmen nicht mehr mit dabei war, hat nichts Gutes über sie zu sagen: »Wenn du versuchst so zu spielen wie die Typen damals, dann bist du tot!«
Bei einer der Schiffstouren in den Norden traf Armstrong 1920 übrigens auch den Kornettisten Bix Beiderbecke. »Der war ein niedlicher Junge«, erinnerte sich Satchmo, der ja gerade mal zwei Jahre älter als Beiderbecke war, »er kam immer runter, um die Bands zu hören, und ging dann heim, um zu üben, was er gehört hatte.«35 Später machte Beiderbecke, wann immer er in Chicago war, einen Abstecher in den Lincoln Gardens, wo Armstrong mit King Olivers Creole Jazz Band auftrat. Tatsächlich entwickelte er in etwa zeitgleich mit Armstrong seinen eigenen Stil, lyrischer, sanfter, aber nicht weniger einflussreich auf die Jazzgeschichte.
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