Ich muss das Datum verschrieben haben: der Mensch behauptet, ha ha ha, ich hätte ihn ganz ausdrücklich für heut Nachmittag herbestellt.
ALICE RÜTTERBUSCH.
Das war aber net etwa die einzige Bassermann’sche Gestalt, der i auf die sechs Treppenabsätz begegnet bin, und was mir die lieben kleinen Kinderln, die auf die Stufen rumkugeln, nachgeschrien haben, das is dermaßen unparlamentarisch, das is von solche Kröten, noch net drei Käs hoch sind s’, schon die allergrößte Gemeinheit, die mir noch vorkommen is.
DIREKTOR HASSENREUTER
(lacht, wird dann ernst). Ja, siehst du: daran gewöhnt man sich; was so hier in diesem alten Kasten mit schmutzigen Unterröcken die Treppe fegt und überhaupt schleicht, kriecht, ächzt, seufzt, schwitzt, schreit, flucht, lallt, hämmert, hobelt, stichelt, stiehlt, treppauf treppab allerhand dunkle Gewerbe treibt, was hier an lichtscheuem Volke nistet, Zither klimpert, Harmonika spielt – was hier an Not, [29]Hunger, Elend existiert und an lasterhaftem Lebenswandel geleistet wird, das ist auf keine Kuhhaut zu schreiben. Und dein alter Direktor, last not least, rennt, ächzt, seufzt, schwitzt, schreit und flucht, ha ha ha, wie der Berliner sagt, immer mittenmang mit. Ha ha ha, Mädel, mir ist es recht dreckig gegangen.
ALICE RÜTTERBUSCH.
Weißt übrigens, wen i, wie i grad auf den Bahnhof Zoologischer Garten zusteuer, troffen hab? Den alten guten Fürst Statthalter hab i troffen. Und sixt, unverfroren wie i amal bin, bin i zwanzig Minuten lang neben ihm herg’schwenkt und hab ihn in an langen Diskurs verwickelt, und auf Ehre, Harro, wie ich dir sag, so is es buchstäblich tatsächlich g’schegn. Auf’n Reitweg is plötzlich Majestät mit großer Suite vorüberg’ritten. I denk, i versink! Und hat übers ganze Gesicht gelacht und Durchlaucht so mit dem Finger gedroht. Aber g’freit hab i mi, das kannst mir glauben. Aber jetzt kommt d’ Hauptsach. Jetzt pass auf. – Ob i mi freun tät, hat mi Durchlaucht plötzli g’fragt, und ob i wieder nach Straßburg mecht, wann der Direktor Hassenreuter das Theater tät wieder übernehmen. Na weißt: beinah hab i an Sprung getan!
DIREKTOR HASSENREUTER
(wirft seinen Überzieher ab und steht in seinen Orden da). Du hast wahrscheinlich bemerken müssen, dass die kleine Durchlaucht vorzüglich gefrühstückt hat. Sessa! Wir haben zusammen gefrühstückt. Wir haben ein exquisites kleines Herrenfrühstück beim Prinzen Ruprecht draußen in Potsdam gehabt. Ich leugne nicht, dass sich vielleicht eine Wendung zum Guten im miserablen Geschicke deines Freundes vorbereitet.
[30]ALICE RÜTTERBUSCH.
Liebster, wie a Staatsmann, wie a Gesandter siehst du ja aus.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Ah, du kennst diese Brust voll hoher und höchster Orden noch nicht!? Klärchen und Egmont! Hier magst du dich satt trinken! (Neue Umarmung.) Carpe diem! genieße den Tag! Sekt, kleine Naive, steht allerdings auf dem jetzigen Repertoire deines alten Direktors, Erweckers und Freundes nicht! (Er öffnet eine Truhe und entnimmt ihr eine Flasche Wein.) Aber dieser Stiftswein ist auch nicht von Pappe! (Er zieht den Korken. Die Türschelle geht.) Was? – Pst! – Wer hat denn die ungeheure Dreistigkeit, am Sonntagnachmittag hier anzuklingeln? (Es klingelt stärker.) Kleine, zieh dich doch mal in die Bibliothek zurück. (Alice eilt in die Bibliothek ab. Es klingelt wieder.) Donnerwetter noch mal, der Kerl ist ja irrsinnig. (Er eilt nach der Tür.) Gedulden Sie sich, oder scheren Sie sich! (Man hört ihn die Tür öffnen.) Wer? Wie? »Ich bin’s, Fräulein Walburga«? Was? Fräulein Walburga bin ich nicht. Ich bin nicht die Tochter! Ich bin der Vater! Ach, Sie sind’s, Herr Spitta! Gehorsamer Diener, ich bin der Vater! Ich bin der Vater! Was wünschen Sie denn? (Im Gange erscheint wiederum der Direktor, geleitet von Erich Spitta, einem einundzwanzigjährigen jungen Menschen, der Brille und Zwicker trägt und übrigens scharfe und nicht unbedeutende Züge hat. Spitta gilt als Kandidat der Theologie und ist entsprechend gekleidet. Er hält sich nicht gerade, und seiner Körperentwicklung ist die Studierstube und mangelhafte Ernährung anzumerken.) Wollten Sie meiner Tochter Walburga hier auf dem Speicher Privatstunde geben?
SPITTA.
Ich fuhr im Pferdebahnwagen vorüber und glaubte [31]wirklich, ich hätte Fräulein Walburga unten durch das Portal ins Haus eilen sehen.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Gar keine Ahnung, mein lieber Spitta. Meine Tochter Walburga ist augenblicklich mit ihrer Mutter in der englischen Kirche, ich glaube, zu einem liturgischen Gottesdienst.
SPITTA.
Dann verzeihen Sie vielmals, wenn ich gestört habe. Ich nahm mir die Freiheit, heraufzukommen, weil ich mir sagte: eine Begleitung in dieser Gegend, vielleicht auf dem Rückwege nach dem Westen, wäre Fräulein Walburga am Ende nicht unangenehm.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Wohl, wohl, aber sie ist nicht hier, bester Spitta. Ich bedauere sehr. Ich selber bin nur zufällig hier: der Post wegen! und ich habe auch leider andere dringende Sachen vor. – Wünschen Sie sonst was, mein guter Spitta?
(Spitta putzt seinen Kneifer und gibt Zeichen von Verlegenheit.)
SPITTA.
Man gewöhnt sich nicht gleich an die Dunkelheit.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Sie benötigen vielleicht Ihr Stundengeld. Schade: ich habe leider die Gewohnheit, nur mit einem Notpfennig in der Westentasche auf die Straße zu gehn. Ich muss Sie schon bitten, sich zu gedulden, bis ich wieder in meiner Wohnung bin.
SPITTA.
Hat durchaus keine Eile, Herr Direktor.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Ja, das sagen Sie so: aber ich bin ein gehetztes Wild, guter Spitta …
SPITTA.
Und doch möchte ich, da ich dieses Zusammentreffen wirklich als eine Art höherer Fügung ansehen muss, um eine Minute Ihrer kostbaren Zeit bitten. Dürfte ich, kurz, eine Frage tun?
[32]DIREKTOR HASSENREUTER
(mit den Augen auf der Uhr, die er gezogen hat). Genau eine Minute. Die Uhr in der Hand, bester Spitta.
SPITTA.
Frage und Antwort wird, denk ich, kaum von so langer Dauer sein.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Also los!
SPITTA.
Habe ich wohl Talent zum Schauspieler?
DIREKTOR HASSENREUTER.
Um Gottes willen, Mensch, sind Sie denn irrsinnig? – Verzeihen Sie, bester Herr Kandidat, wenn ich in einem solchen Fall bis zur Unhöflichkeit außer dem Häuschen bin. Es heißt zwar: natura non facit saltus, aber Sie haben da einen unnatürlichen Sprung gemacht. Da muss ich mal erst zu Atem kommen. Und nun Schluss davon! Denn glauben Sie mir, wenn wir beide jetzt über diese Frage zu diskutieren anfangen, so würden wir in drei bis vier Wochen, sagen wir Jahren, darüber noch nicht zum Schluss gekommen sein. – Sie sind doch Theologe, mein Bester, und stammen aus einem Pastorhaus: wie kommen Sie denn auf solche Gedanken? wo Sie doch Konnexionen haben und Ihnen die Wege zu einer behaglichen Existenz geebnet sind.
SPITTA.
Ja, das ist eine lange innere Geschichte, eine lange Geschichte schwerer innerer Kämpfe, Herr Direktor, die allerdings bis zu dieser Stunde nur mir bekannt und also absolutes Geheimnis gewesen sind. Da hat mich das Glück in Ihr Haus geführt, und von diesem Augenblick an fühlte ich, wie ich dem wahren Ziel meines Lebens näher und näher kam.
DIREKTOR HASSENREUTER
(mit peinlicher Ungeduld). Das ehrt mich. Das ehrt mich und meine Familie! (Er legt [33]ihm die Hände auf die Schulter.) Dennoch muss ich Ihnen jetzt die ganz inständige Bitte vortragen, von der Erörterung dieser Angelegenheit im Augenblicke abzusehen. Meine Geschäfte sind unaufschieblich.
SPITTA.
Dann möchte ich nur noch so viel hinzusetzen – damit Sie’s wissen! –, dass ich absolut fest entschlossen bin.
DIREKTOR HASSENREUTER.
Aber mein lieber Herr Kandidat: wer hat Ihnen denn diese Raupen in den Kopf gesetzt? Ich habe mich über Sie gefreut. Habe Sie schon im Geist Ihres friedlichen Pfarrhauses wegen beneidet. Gewissen literarischen Ambitionen, die einem hier in der Großstadt anfliegen, habe ich keinen Wert beigelegt. Das ist nur so nebenbei und verliert sich zweifellos wieder bei ihm, dachte ich mir! – Mensch, und nun wollen Sie Komödiant werden? Kurz: Gnade Gott, wenn ich Ihr Vater wär! Ich würde Sie bei Wasser und Brot einsperren und Sie nicht eher herauslassen, als bis Ihnen jede Erinnerung an diese Torheit entschwunden wäre. Dixi! und nun adieu, guter Spitta.
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