„Jedenfalls können wir sicher sein, dass die phänomenale Heilkraft der Biester nicht wirkt, wenn man ihnen den Kopf abschlägt.“
„Gott sei Dank!“
Robert Thornton atmete tief durch. Sein Blick traf sich mit Brendas. Er hatte sie immer schon gemocht. Jetzt sah er in ihren meergrünen Augen die Angst aufleuchten. Pures Entsetzen vor einem Schrecken, der völlig unfassbar war. Und ich bin schuld daran, dachte er. Wenn ich sie nicht überredet hätte, wäre wir jetzt nicht hier, sondern würden über irgendwelchen Gleichungen brüten…
Vor kurzem wäre diese Vorstellung noch der Verkörperung des reinen Schreckens gleichgekommen – nicht Brendas, sondern der Gleichungen und Formeln wegen, die Robert hasste wie die Pest. Jetzt jedoch erschien im der Gedanke daran fast idyllisch.
„Es tut mir leid“, sagte er.
„Was?“
„Wenn ich nicht so dämlich gewesen wäre, dich zu bereden, bei diesem Spiel mitzumachen.“
„Das konntest du ja nicht wissen, Robert.“
„Der Typ, der mir das Spiel verkauft hat, kam mir gleich ziemlich seltsam vor. Ich kann es nicht erklären, aber irgendetwas stimmte mit dem nicht. Und das hatte nichts damit zu tun, dass seine Ware vielleicht aus zweifelhaften Quellen stammte. Da war etwas…“ Er brach ab und schüttelte den Kopf.
„Etwas, das einem den Willen nimmt!“
„So, wie wenn man diesen Vampirbestien in die Augen schaut!“, stellte Brenda fest.
Robert nickte.
„Ja, genau so!“
„Aber, das ist doch alles absurd! Was sollte dieser komische Gothic-Opa, von dem du gesprochen hast, mit diesem Spiel zu tun haben?“
„Die Grenzen zwischen der Spielwelt und der Wirklichkeit scheinen nicht ganz so genau gezogen worden zu sein, wie das eigentlich normal wäre“, erwiderte Robert. „Du erinnerst dich doch an das Bild auf dem Computerschirm…“
„Du meinst, als eine Vampirbestie dir die Kehle aufreißen wollte!“
„Ja, genau!“
Brenda schwieg einen Moment. „Wir sind auf irgendeine, nicht zu erklärende Weise tatsächlich in die Welt dieses Spiels hineingelangt.“
„Ja, so muss es sein. Jedenfalls fällt mir keine plausiblere Erklärung ein. Ich dachte, es wäre ein Trick oder eine besondere Technik, die direkt auf das Gehirn wirkt.“
„So ein Quatsch!“
„Das ist kein Quatsch. Wusstest du, dass die schnellen Schnitte in Kombination mit den bunten Farben in japanischen Animés epileptische Anfälle auslösen können?“
„Echt?“
„Natürlich nur bei bestimmten, sehr empfindlich reagierenden Personen, aber es kommt vor und letztlich weiß man nicht genau, weshalb das so ist. Warum sollte also nicht auch so ein Programm direkt auf das Gehirn wirken können?“ Brenda schüttelte den Kopf. Sie bückte sich und nahm etwas von dem Schnee in ihre Hand, der im nächsten Moment darin zu schmelzen begann. „Das hier ist mehr, Robert. Viel mehr. Nenn die Kraft, die uns hier hergebracht hat meinetwegen Magie oder wie immer du auch willst! Aber im Moment ist diese Höllenwelt für uns offenbar die einzige Realität. Wir frieren hier, wir verletzen uns – vielleicht sterben wir auch hier, wenn wir müde werden und für kurze Zeit nicht aufpassen.“
„Ja“, murmelte Robert düster.
Er wandte sich um und ging zu der im Schnee liegenden Armbrust, die er sich wieder über die Schulter hängte.
Er zitterte leicht und versuchte es zu unterdrücken. Aber inzwischen war er ebenso vollkommen durchgefroren wie Brenda, deren Lippen sich bereits blau zu verfärben begannen.
Anschließend ging er zu dem knorrigen, sehr verwachsenen und durch viele, knollenartige Missbildungen verunstalteten Baum, in der noch der angespitzte Holzpflock steckte, den Robert mit der Armbrust verschossen hatte. Es war schließlich besser, wenn sie sparsam mit der Munition umgingen.
Schließlich hatte keiner von ihnen Lust, den Gnom allzu bald erneut um Hilfe bitten zu müssen, um dann anschließend doch nur ein höhnisches Gelächter zu ernten.
Brenda sammelte in der Zwischenzeit ihren Bogen vom Boden auf.
„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte Brenda.
Robert sah sich um.
Von allen Seiten umgab sie der von Nebel durchwirkte Wald.
Wohin man auch blickte, war nur eine graue Wand zu sehen.
„Wir müssen zum Schloss“, sagte Robert. „Schließlich scheint der einzige Weg, der uns aus dieser Hölle herausführt nur dann eröffnet, wenn wir den Schlossherrn töten.
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Art Super-Vampir
- etwas größer, älter, schauriger als die Kreaturen, die er uns bis jetzt geschickt hat.“
„Und woher sollen wir wissen, ob das alles, was man uns gesagt hat, überhaupt stimmt?“, fragte Brenda.
Er zuckte die Schultern.
„Keine Ahnung, mein Vorschlag ist besser, als gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, bis der Schlossherr wieder ein paar seiner fiesen Kreaturen auf den Weg schickt, um uns zu töten.“
„Wenn du meinst...“
„Auf dem Weg zum Schloss müssten wir an dem Dorf vorbeikommen, von dem der Gnom gesprochen hat. Vielleicht erhalten wir dort noch etwas mehr an Informationen.“
„Und warme Kleider! Himmel, ist mir kalt, Robert!“
„Mir auch.“
„Aber das ist keine gewöhnliche Kälte. Klar, hier liegt Schnee und überall sind Eiszapfen, vor denen man sich vorsehen muss, damit sie einen nicht erschlagen. Aber diese Kälte...“ Es gelang ihr nicht, das Zittern zu unterdrücken.
„Robert, diese Kälte geht einem durch und durch. Als ob sie das tiefste Innere erreicht und langsam gefrieren lässt.“ Robert machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich würde sagen, der letzte Blizzard in New York war schlimmer...“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Robert! Das ist etwas völlig anderes. Ich kann es schwer beschreiben. Mir kommt es vor wie die Kälte des Todes, die einem langsam überall hin kriecht. Sie bewirkt, dass wir langsam von innen heraus sterben. Auch warme Kleidung wird dagegen nicht helfen!“
Kapitel 5 : Hexenspuk im Nebel
Die Nebelschwaden waberten zwischen den knorrigen Bäumen her und wirkten wie die Arme eines konturenlosen Ungeheuers.
Von dem Schloss auf der Anhöhe war jedenfalls nichts mehr zu sehen.
„Hast du noch eine Ahnung, in welche Richtung wir uns wenden müssen, wenn wir zum Schloss wollen?“, fragte Brenda.
Roberts Gesicht wirkte genauso ratlos wie das seiner Begleiterin.
Er deutete in Richtung eines verwaschenen Lichtflecks, der durch die dichte Nebelfront hindurchschimmerte.
„Das muss der Mond sein!“, war er überzeugt. Er streckte den Arm aus. „Dann liegt das Schloss in dieser Richtung!“, verkündete er im Brustton der Überzeugung.
„Na, Hauptsache, du weißt, wohin wir gehen.“
„Von wissen kann keine Rede sein, Brenda. Aber ich denke, alles ist besser, als hier zu bleiben.“ Er nahm ihre Hand.
Sie war eiskalt.
Wie die Hand einer Toten, durchfuhr es Robert. Ihn schauderte unwillkürlich. As sie seinen Blick erwiderte, wusste er, dass sie bei der Berührung seiner Hand denselben Schauder empfand.
Keiner von ihnen sagte jedoch ein Wort.
Sie hat Recht, dachte Robert. Wir sterben. Langsam aber unaufhaltsam.
*
Robert und Brenda setzten ihren Weg fort, auch wenn sie sich im Laufe der Zeit immer unsicherer darüber wurden, ob er sie tatsächlich an ihr Ziel bringen würde.
Zunächst mussten sie sich ihren Weg durch knietiefen Schnee und dichtes Gestrüpp bahnen. Dann liefen sie über vereisten Waldboden, der so hart wie Asphalt war. Die Sicht wurde immer schlechter. Das Mondlicht verschwand schließlich beinahe zur Gänze im Nebel und so verloren sie zeitweilig jede Möglichkeit, sich zu orientieren.
Immer wieder mussten sie sich vor plötzlich in die Tiefe stürzenden Eiszapfen in Acht nehmen und einmal begrub sie eine Ladung nasser Schnee unter sich.
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