Er spürte, wie sich seine Lippen dabei bewegten und er erschrak.
Was ist nur los mit mir? , durchfuhr es ihn. Jarmila ist Teil dieses Computerprogramms - so wie alle anderen hier lebenden Kreaturen auch. Eine Subroutine, der man Gestalt und ein paar hübsche Augen gegeben hat. Aber das ist auch alles…
Und doch war da auch eine andere Empfindung in ihm.
Ein Gefühl, das ihm sagte, dass er Jarmila unbedingt aus den Klauen ihres Peinigers befreien musste.
Bleib cool, Mann! Du wirst dich doch nicht in einen Avatar verlieben? Das ist doch absurd!
Er versuchte, die Gedanken an Jarmila zu verscheuchen.
„Nein!“
Ein Wort, das die Bündelung seiner Gedanken manifestierte.
Ein Wort, das alles auf den Punkt brachte.
Zu seiner eigenen Überraschung stellte Robert jetzt fest, dass er laut gesprochen hatte.
„Was ist los, Robert? Mit wem sprichst du?“
„Mit niemandem.“
„Hattest du irgendwelche Halluzinationen oder so etwas Ähnliches?“
„Ich sagte doch, es ist alles in Ordnung, Brenda!“, erwiderte er deutlich barscher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
Entsprechend eingeschnappt war Brenda. „Entschuldige, dass ich nachgefragt habe, aber es ist mir halt nicht gleichgültig, was mit dir los ist.“
„Ist ja schon gut!“, knurrte Robert. Sie hielt an und fasste ihn bei den Schultern.
Der Blick ihrer meergrünen Augen bohrte sich förmlich in die seinen. Nach ein paar Augenblicken hatte die Präsenz dieser Augen es sogar geschafft, die Erinnerung an Jarmilas Blick zu verscheuchen.
Aber nicht für lange! , war es Robert in seinem tiefsten Inneren klar. Ich werde kommen, Jarmila! Du kannst dich auf mich erlassen!
„Was hat diese Hexe mit dir gemacht, Robert?“
„Gar nichts!“
„Das ist doch nicht wahr! Sie hat dich berührt!“
„Lass uns einfach den Wölfen folgen und zu dem Dorf gehen, dann werden wir das alles bald vergessen haben“ Sie atmete tief durch. „Ich hoffe, du behältst Recht, Robert!“
„Bestimmt!“
Einer der Wölfe heulte auf. Er saß in einer Entfernung von ungefähr fünfzig Meter neben einem der knorrigen Bäume.
Das Tier schien ungeduldig darauf zu warten, dass der Weg endlich fortgesetzt wurde und die beiden Jugendlichen ihm und seinen Artgenossen weiter folgte.
Aber Robert spürte instinktiv, dass da noch etwas anderes sein musste, was den Albino-Wolf beunruhigte. Er begann die Nase in die Luft zu halten und sich schnüffelnd herumzudrehen. Ein winselnder Laut entrang sich seinem gewaltigen Maul.
Inzwischen hatte es auch Brenda bemerkt. Sie legte einen Pfeil in den Bogen.
„Irgendetwas stimmt hier nicht!“, war sie überzeugt.
Sie lauschten in den Nebel hinein.
Plötzlich jaulte in einiger Entfernung einer der Albino-Wölfe auf. Es war ein verzweifelter, grausiger Laut, dem noch ein Wimmern folgte. Dann trat eine gespenstische Stille ein.
Robert und Brenda standen wie erstarrt da und blickten in den Nebel. Es war nicht zu sehen, was geschehen war. Der Nebel war einfach zu dicht.
Der Albino-Wolf, der die beiden Jugendlichen gerade noch dazu aufgefordert hatte, ihm und seinen Artgenossen zu folgen, kauerte jetzt mit eingekniffenem Schwanz am Boden.
Das Tier winselte vor sich hin und presste sich regelrecht an den Boden.
Von den anderen Albino-Wölfen war nirgends etwas zu sehen.
Dafür konnte man einen von ihnen jämmerlich Schreien hören. Anschließend folgte ein Geräusch, als ob etwas Schweres zu Boden fiel.
„Was geht da vor sich?“, flüsterte Brenda.
Sie sollte sehr rasch eine Antwort darauf bekommen. Einer der knorrigen Bäume begann plötzlich, sich zu bewegen. Die gerade noch hartgefrorenen Äste verwandelten sich in geschmeidige, tentakelartige Arme. Gesichter bildeten sich auf dem verwachsenen Stamm.
Der Baum in unmittelbarer Nähe des am Boden kauernden Albino-Wolfs gewann plötzlich eine unheimliche Art von Eigenleben.
Die Äste schlugen wie Peitschen auf den Boden. Der Albino-Wolf versuchte sich durch einen Sprung zu retten, aber es war zu spät. Einer dieser Peitschenschläge traf ihn. Er rollte sich winselnd um die eigene Achse. Dabei kam er einem anderen Baum sehr nahe, der plötzlich ebenfalls lebendig wurde, während das Leben aus dem ersten Baum so urplötzlich verschwand, wie es in ihn hinein gefahren war.
Der Albino-Wolf bekam einen weiteren, diesmal tödlichen Schlag. Regungslos blieb das Tier liegen.
Innerhalb von Sekunden schrumpfte er zusammen, so als ob ihm jegliche Lebenskraft entzogen wurde. Ein Geruch der Verwesung verbreitete sich und raubte Brenda und Robert beinahe den Atem.
Im nächsten Moment stand der Baum wieder stocksteif da.
Das unheimliche Leben, das in gerade noch erfüllt hatte, war aus ihm gewichen.
„Eine Art Baumgeist!“, stellte Robert fest. „Er fährt von einem Baum zum anderen, nimmt Besitz von ihm und saugt offenbar die Lebenskraft derjenigen auf, die er schlägt.“ Brenda ließ den Bogen sinken und steckte den Pfeil weg.
„Damit werden wir wohl nichts gegen diesen Baumgeist ausrichten können, wie du ihn nennst!“
„Holz gegen Holz – das klingt nicht gerade viel versprechend“, nickte Robert.
„Und was dann?“
„Vorsichtig weitergehen“, schlug Robert vor. „Und immer schön auf die Bäume achten. Ich hoffe nicht, dass dieser Geist alle Albino-Wölfe erschlagen hat.“ Aus dem Nebel drang erneut ein jämmerliches Winseln.
„Wieder einer weniger“, meinte Brenda.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Bestien mal nachtrauern würde!“, gestand Robert.
Vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den anderen.
Robert nahm das Schwert in beide Hände und Brenda hängte sich den Bogen über den Rücken und nahm ebenfalls ihre Klinge. Im Fall eines Angriffs durch den Waldgeist hatten sie dann vielleicht die Chance, sich durch ein paar schnelle, entschlossene Hiebe zu wehren.
Andererseits hatten es die wesentlich stärkeren Albino-Wölfe auch nicht geschafft, sich vor den Mörderbäumen in Sicherheit zu bringen.
„Diese weißen Wölfe unserer Hexe müssten doch eigentlich an das Leben in diesem Wald perfekt angepasst sein“, murmelte Brenda. „Wieso können sie sich dann nicht besser gegen den Waldgeist zur Wehr setzen?“
„Vielleicht meiden sie ihn normalerweise einfach“, bot Robert eine Erklärung.
Sein Blick glitt an Brenda vorbei.
Ein verwachsener Baum ganz in ihrer Nähe begann sich zu bewegen. Augen und ein Mund bildeten ein verzerrtes Gesicht.
Die Äste bogen sich und sausten wie die Tentakel eine Krake hernieder.
Robert zog Brenda am Arm aus dem Gefahrenbereich heraus.
Der Peitschenschlag verfehlte sie nur um wenige Zentimeter.
Mit dem Schwert schlug Robert zu und trennte den Ast durch. Ein wütendes Brüllen ertönte. Das Gesicht auf der Rinde verschwand wieder.
Robert wirbelte herum und ließ den Blick schweifen. In welchen der Bäume der Geist als nächstes fahren würde, war nicht vorhersehbar.
„Wir müssen uns immer möglichst weit von den Bäumen entfernt halten, Brenda!“
„Leichter gesagt, als getan – in einem Wald!“ Ein weiterer Baum begann plötzlich mit seinen Ästen auszuschlagen. Robert entging dem Schlag nur mit knapper Not.
Sie hetzten weiter. Jedes Geräusch im Unterholz, jedes Knacken eines Astes brachte sie beide an den Rand des Wahnsinns.
Manchmal glaubten sie bereits, in der Baumrinde ein Gesicht zu sehen, was sich dann als Irrtum herausstellte.
In der Ferne hörten sie noch das eine oder andere Winseln eines erschlagenen weißen Wolfs.
Dann herrschte Stille.
„Ich glaube, wir sind jetzt allein auf uns gestellt!“, sagte Brenda.
„Und vor allem haben wir immer noch keine Ahnung, wohin wir uns eigentlich wenden müssen!“ Die Wölfe waren entweder alle erschlagen oder geflohen. Auf jeden Fall war es sehr unwahrscheinlich, dass einer von ihnen zurückkehrte und sie zum Dorf brachte.
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