Aber da bin ich jetzt beim eigentlichen Sinn dieses Kapitels. Ja, es hat wirklich einen, einen Sinn nämlich. Aber wenn ich ihn in der ersten Zeile darlegte und so weiterverführe im ganzen Buch, brauchte ich keinen einjährigen Arbeitsaufenthalt in der verlagseigenen Villa auf den Bahamas (jo, eh, oh Lektorin meines Vertrauens), da würde mir ein Wochenende in meiner Wiener Wohnung genügen. Und der Schmäh wäre auf sein Skelett abgemagert und somit kein Schmäh mehr.
Viele Orte, an denen der Schmäh gediehen ist, gibt es gar nicht mehr: Das Milchgeschäft, das nur Milch und einfache Milchprodukte und vielleicht noch Semmeln verkaufte, die Greißlerei, wo meine Mutter Wurst, Gemüse und Obst holte, der Fleischhauer und das Fischgeschäft zwei Häuser weiter – und natürlich das Modegeschäft von der Frau Schuller. Ja, die hat es wirklich gegeben, die Frau Schuller, und sie war eine begnadete Schmähführerin. Je länger ich an diesem Buch geschrieben habe (diesen Satz können Sie als Hinweis lesen, dass dieses Kapitel, zumindest in größeren Teilen, am Schluss entstanden ist – wie das oft vorkommt bei ersten Kapiteln), desto mehr ist mir aufgefallen, wie sehr es auch eine Reise in meine eigene Kindheit und Jugend ist, als der Schmäh noch wirklich rannte, weil die Menschen einander immer wieder begegneten im Grätzl 1und einander immer etwas zu erzählen hatten, die kleinen Dinge, die ganz groß sein können. Da kommt es nur auf den Blickwinkel an. Gelebtes Facebook war das, nur mit weniger Verbissenheit und Selbstbeschau.
Zurück zum Sinn dieses Kapitels, das so quasi ein Vorwort ist, das ich aber nicht Vorwort nenne, weil ich zu den Lesern gehöre, die Vorworte erst zum Schluss lesen. Bestenfalls. Doch dieser um Verzeihung heischende Hinweis ist lesenswichtig: Ohne Wiener Dialekt geht’s nicht, zumindest nicht immer. Leider. Ich hab’s versucht mit konsequentem Hochdeutsch, aber ich bin gescheitert. „Owa des woa nix“, wie man auf Wienerisch sagt. Wieso nicht, werde ich versuchen, an einem Beispiel zu erklären.
H. C. Artmann wird uns in diesem Buch noch öfter begegnen. Artmann war einer der größten Dichter, die Österreich in der Nachkriegszeit hatte. Außerdem war er ein begnadeter Schmähbruder, also einer, der seine Freunde und Leser am Schmäh halten konnte. (Was ein Schmähbruder ist und wie man am Schmäh gehalten wird und so weiter – nicht so ungeduldig, wir haben dazu ja ein ganzes Buch vor uns!) Jener Artmann schrieb 1958 seinen Gedichtband „med ana schwoazzn dintn“, in dem er die Dialektdichtung revolutionierte, auch im Schriftbild.
Schauen Sie, jetzt muss ich wieder was dazwischenschieben. Aber so ist das beim Schmäh. Was ganz geradlinig verläuft, ist kein Schmäh. Beim Schmähführen ergibt ein Wort das andere, und es kann da schon passieren, dass man bei einer G’schicht über einen vegetarischen Würstelstand anfängt und bei einer scheenen Leich’ am Zentralfriedhof endet, ohne dass, wider Erwarten, das eine mit dem anderen ursächlich was zu tun hätte.
So komm’ ich jetzt von H. C. Artmann auf den Dichter Ernst Kein, und das hat sogar etwas miteinander zu tun. Wenn Martin Luther seinerzeit dem Volk aufs Maul geschaut hat, so hat das Kein bei den Wienern gemacht. Und was dort herausgekommen ist, hat Kein aufgeschrieben. Oder er hat es so gedichtet, als wäre es dort herausgekommen. Für die Übertragung des gesprochenen Wienerischen in die Schrift hat Kein auf alle phonetischen Zusatzzeichen verzichtet. Das schaut ein bisserl komisch aus beim ersten Lesen, so, als wär’s gar nicht Deutsch, sondern irgendeine Fremdsprache, die keiner verstehen kann. Aber ich geb’ Ihnen einen Tipp: Lesen Sie’s laut, Sie werden den richtigen Klang schnell ins Ohr kriegen. Kleine Übung mit Kein gefällig? Also:
Da moozat
da schubeat franzl
da schdraus da heidn
und da derische
bedhoofn
sengs
des woan
ollas weana
so wia i
Wie ist es Ihnen beim Entziffern ergangen? – Keine Sorge, das wird schon. Ich verrate Ihnen einen Trick: Lesen Sie laut, was in diesem Buch an Mundart vorkommt. Dann ist alles klar. Obendrein werden Sie süchtig werden nach dem Klang – und nach dieser Schreibung obendrein. Abgesehen davon: Den Schmäh vom Ernst Kein haben Sie bemerkt? Ich meine, Ludwig van Beethoven, gebürtig im Dezember 1770 zu Bonn, als Wiener auszugeben? Und Wolfgang Amadeus Mozart ist doch eigentlich Salzburger. Oder täuscht mich meine Erinnerung? Und Joseph Haydn – ich sage nur: Rohrau, Niederösterreich. Ein Wiener ist, wen der Wiener – mit Schmäh, wohlgemerkt – zum Wiener erklärt.
Zurück zu Artmann. Was Kein erfunden hat in der Dialektschreibung, hat Artmann in der „schwoazzn dintn“ perfektioniert. Manchmal freilich geben die Buchstaben eher Artmanns eigene Sprechweise wieder, wenn er bei Lesungen die Gedichte zwischen seinen Zähnen zerquetschte. Aber er nähert sich dem gesprochenen Wienerisch wirklich gut an. Deshalb übernehme ich seine Schreibweise (oder die vom Ernst Kein). Ich versuche nur, allzu bewusst originelle Schreibungen auszugleichen und dadurch leichter lesbar zu gestalten.
Über Artmann und seine Schmähs werden wir, wie gesagt, später mehr erfahren. Jetzt aber zu einem Beispiel, das zeigen soll, warum ich in einem Buch über den Schmäh auf den Dialekt nicht verzichten kann. Zwei Verse aus einem Gedicht Artmanns sind zum Beweis völlig genug:
waun i amoe a bangl reis
zu deitsch: de bodschn schdrek
Wie, um alles in der Welt, soll ich Ihnen das übersetzen? „A bangl reis“ heißt „eine kleine Bank reißen“, die Bedeutung ist „sterben“. „de bodschen schdrek“ heißt „die Pantoffel ausstrecke“, wobei „bodschn“ (Pantoffel) aber als Synonym für „Beine“ steht, womit die Übersetzung richtig lautet: „Die Beine ausstrecke“. Die Bedeutung ist dieselbe: „sterben“. Wien und der Tod – diese Liebesbeziehung hat manch einen Ausdruck und manch einen Schmäh hervorgebracht. Auch dazu komme ich noch. Nua net hudln 2.
Wir aber haben jetzt das Rüstzeug für die hochdeutsche Übersetzung dieses Artmann-Gedichts. Alsdann:
„Wenn ich einmal sterbe / auf Deutsch: sterbe …“ Das kann man gleich aufgeben. Versuch Nummer zwei: „Wenn ich einmal ein Bänklein reiße / zu Deutsch: Die Pantoffel ausstrecke …“ Unverständlich dünkt mich dies. Heraus mit den Synonymen. „Sterben“ darf man nicht verwenden, denn dieses Wort könnte Artmann benützen, wenn er’s denn benützen wollte. Er könnte schreiben: „waun i amoe stiab“. Aber er will umschreiben, und so muss man’s auch übersetzen, wenn man’s übersetzen muss. Dritter Versuch: „Wenn ich einmal von hinnen gehe / auf Deutsch: verscheide …“ Naa, des wiad aa nix (zu Hochdeutsch: Nein, das klappt auch nicht). Zu geschwollen für die Wiedergabe von Artmanns Diktion. Es muss beim Dialekt bleiben. Nur dann ist dieser Schmäh ein Schmäh.
Dass sich Dialekt nicht so einfach ins Hochdeutsche übertragen lässt, hat nicht mit dem Wienerischen allein zu tun. Es ist ein Charakteristikum des Dialekts. Wenn ein Bayer sagt: „Wea ko, dea ko“, dann mag man das zwar eins zu eins verhochdeutschen zu „wer kann, der kann“, aber die Aufmüpfigkeit bleibt unübersetzbar, denn gemeint ist ja: „Eigentlich ist mir mein Tun nicht gestattet, ich nehme mir dennoch die Freiheit, es gleichsam justament zu tun.“
Der Schmäh funktioniert manchmal schon auch auf Hochdeutsch, aber oft muss es eben Wienerisch sein. Ich werde in diesen Fällen eine hochdeutsche Lese- und Verständnishilfe beistellen. Versprochen. Nur die Übersetzung der Bedeutung, die kann ich nicht in allen Fällen garantieren.
Übrigens muss ich gleich eine Warnung aussprechen: Hüter der politisch korrekten Ausdrucksweise verzweifeln am Schmäh. Dem Schmäh ist es, Wienerisch gesprochen, wuascht, ob man und wie man etwas sagen darf. Zum Beispiel ist der Ausdruck „Neger“ für einen Schwarzafrikaner mittlerweile verpönt. Man soll „Schwarzer“ sagen.
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