1 ...8 9 10 12 13 14 ...39 Die NATO bildet den politisch-militärischen Rahmen der Pax Americana und der in dieser Epoche beginnenden krisenhaften Globalisierung des Kapitals. In diesem Bezugsfeld musste sie sich von vornherein grundsätzlich von den früheren imperialen Bündniskonstellationen unterscheiden. Weder konnte es sich um ein bloß äußerliches Verhältnis von Vormacht und Vasallen im traditionellen imperialen Sinne handeln, noch um ein mehr oder weniger gleichrangiges Bündnis nationalimperialer Mächte. Vielmehr verlangte der widersprüchliche Doppelstatus der USA als Nationalstaat bzw. Nationalökonomie einerseits und als „ideeller Gesamtimperialist“ andererseits eine analoge Metamorphose der sekundär gewordenen europäischen Staaten des kapitalistischen Zentrums mit einem ähnlich widersprüchlichen Charakter: Einerseits können sie wie die USA nicht aufhören, Nationalstaaten zu sein; andererseits müssen sie sich doch in die neue Struktur eines globalen Kontrollanspruchs eingliedern, ohne direkt zu einem Bestandteil der USA werden zu können.
Auf diese widersprüchliche Weise wurde die NATO über die bloß militärische Funktion hinaus zur gesamtwestlichen politischen Instanz, um die europäischen Staaten des kapitalistischen Zentrums am hegemonialen System des neuen „ideellen Gesamtimperialisten“ zu beteiligen und sie gewissermaßen in dieses System einzuschmelzen, also sie aus bloß zweitrangigen „Mächten“ alten Typs selber zu integralen Bestandteilen eines gemeinsamen „ideellen Gesamtimperialismus“ zu machen. Die Alternative ist jetzt nicht mehr diejenige zwischen einem unabhängigen Status als alte nationalimperiale Macht und einem Vasallenstatus gegenüber der Supermacht USA, sondern diejenige zwischen einem gewichtigeren oder geringeren Status innerhalb der NATO als politischer und legitimatorischer Verlängerung der US-Welthegemonie neuen Typs.
Die NATO erweist sich so einerseits als ein tatsächlich supranationales Gebilde eines gesamtimperialistischen Kontrollanspruchs gegenüber einer Welt betriebswirtschaftlicher Globalisierung und gleichzeitig krisenhaften Zerfalls. Andererseits ist sie gar nicht denkbar ohne den weiterhin nationalstaatlich zentrierten und kontrollierten Hightech-Gewaltapparat der USA, dessen Konkurrenzlosigkeit die US-Hegemonie innerhalb des widersprüchlichen weltimperialen Gesamtkunstwerks aufrecht erhält. In einer barbarischen Ordnung hat in letzter Instanz immer derjenige das Sagen, der den größten Knüppel bereit halten kann. Und im Rahmen kapitalistischer Kriterien und kapitalistischer Technologie wird Europa nie mehr den größten Knüppel haben können.
Das bürgerliche europäische Räsonnement urteilt darüber sehr lapidar und nüchtern, etwa im „Handelsblatt“: „Eine europäische Sicherheitsidentität ist grundsätzlich sinnvoll, derzeit aber nicht realisierbar. Hierfür nötige Rüstungsprogramme können nicht finanziert werden… Die jüngste Kosovo-Intervention hat erneut offenbart, wie sehr die Europäer den USA unterlegen sind, wenn es darum geht, militärische Macht jenseits der eigenen Landesgrenzen zur Geltung zu bringen. Fast 80 % aller Kampfeinsätze und 90 % der verwendeten Bomben und Raketen gingen auf das Konto der USA. Selbst vor ihrer eigenen Haustür konnten die Europäer nur einen marginalen Beitrag zum Niederringen einer drittklassigen Militärmacht leisten… Solange die USA ein verläßlicher Sicherheitspartner bleiben, sollte keine europäische Rüstungspolitik auf Kosten der Haushaltskonsolidierung betrieben werden“ (Wolf 1999).
In der Tat sind die europäischen Staaten des kapitalistischen Zentrums weder jeweils für sich allein noch gemeinsam in größerem Maßstab militärisch interventionsfähig. Dafür fehlen schlichtweg die militärischen Mittel wie strategische Bomberflotten, Flugzeugträger und Lenkwaffenarsenale; nicht nur von der Menge, sondern auch vom technologischen Niveau her. Befindet sich etwa die BRD in dieser Hinsicht heute ungefähr auf dem Niveau eines globalen Dorfpolizisten, so geht es Großbritannien und Frankreich trotz der Erfahrung postkolonialer Kriege und damit bis heute verbundener militärischer Ansprüche kaum besser. Im absurden Falklandkrieg konnten sich die Briten gerade noch gegen die argentinische Marine behaupten; und die diversen französischen Mini-Interventionen in Afrika verdienen kaum das Prädikat des Militärischen. Die französische Presse spottete über das Desaster des Nuklear-Flugzeugträgers „Charles-de-Gaulle“, der schon havarierte, kaum dass er in Dienst gestellt war, und mühsam von seinem bereits ausrangierten Vorgänger „Clemenceau“ abgeschleppt werden musste.
Stellt man in Rechnung, dass innerhalb der EU 60 bis 70 Prozent aller für militärische Entwicklung und Beschaffung aufgewendeten Mittel allein auf Großbritannien und Frankreich entfallen, lässt sich der geringe europäische Spielraum für ein Rüstungs- und Interventionsprogramm ermessen. Die BRD rangiert rüstungspolitisch eindeutig unter „ferner liefen“. Kein Wunder, dass die geplante EU-Streitmacht schon im Vorfeld als „Papier-Truppe“ bezeichnet wird.
Eine grundsätzliche Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses, wenn sie denn gewollt wäre, ist tatsächlich auch finanziell schlichtweg utopisch. Es wäre der ökonomische Ruin, wollte die EU in einem rüstungspolitischen Kraftakt (wofür sie überdies politisch niemals genug vereinheitlicht werden könnte) mit dem Militärpotential der USA gleichziehen. Nirgendwo sind Faktoren ersichtlich, wie die dafür nötige Umkehr der globalen Kapitalströme bewerkstelligt werden sollte; und gelänge dies trotzdem, würde die Weltwirtschaft erst recht zerrüttet und das ohnehin fragile Gebäude des globalen Finanzkapitalismus zum Einsturz gebracht.
Die vorherrschende politische Meinungsbildung macht sich auch gar keine Illusionen, dass das gegenwärtige Kräfteverhältnis noch einmal geändert werden könnte: „Eine grundsätzliche Verschiebung der Gewichte zeichnet sich nicht ab… Europas ökonomische Basis für eine eventuelle Herausforderung der USA und ihrer Weltordnungskonzepte ist… nicht verbreitert worden, sie hat sich verringert… Im militärischen Bereich tritt die transatlantische Diskrepanz noch deutlicher zu Tage. So haben die europäischen NATO-Staaten in den vergangenen fünf Jahren etwa nur halb so viel für militärische Beschaffung ausgegeben wie die USA. In Forschung und Entwicklung hat sich die Lücke noch weiter vergrößert“ (Wolf 2001). Aber dies sind sowieso nur hypothetische Überlegungen, denn abgesehen davon existiert ja auch gar kein ökonomisch-„materialistischer“ Beweggrund für territoriale Annexions- und „Einfluss“-Strategien im Rahmen eines innerimperialistischen Großkonflikts mehr.
Das heißt nicht, dass es keinerlei europäische Profilierungsversuche gegenüber der letzten Weltmacht USA geben würde, die allerdings im Zweifelsfall eher von Frankreich als von der BRD ausgehen. Aber dabei handelt es sich um ein bloßes Kompetenzgerangel oder um „Dezernatskämpfe“ innerhalb der Hackordnung des „ideellen Gesamtimperialismus“ unter unzweifelhafter US-Hegemonie, nicht um das Geltendmachen eines eigenständigen imperialen Anspruchs. Auch ökonomische und vor allem handelspolitische Widersprüche zwischen der EU und den USA werden immer wieder ausgetragen, ohne dass dabei aber jemals ernsthaft das gemeinsame globale Dach der Pax Americana in Frage gestellt würde.
John C. Kornblum, bis 2001 US-Botschafter in der BRD, bringt die kapitalistische Unvermeidlichkeit der in der NATO verkörperten Allianz wie deren Problem in einem Atemzug zum Ausdruck: „Die Angst, Europäer und Amerikaner würden sich in miteinander konkurrierende Lager aufspalten, ist unbegründet. Europa und die Vereinigten Staaten sind so stark aneinander gebunden, dass ein Bruch nicht vorstellbar ist… Was ist in der gegenwärtigen Situation so besonders? Selten zuvor hat eine neue amerikanische Regierung die Amtsgeschäfte in einer solch unsteten Zeit übernommen. Und selten zuvor spürten Europäer und Amerikaner gleichermaßen eine solche Hilflosigkeit angesichts dieses weltweiten Durcheinanders“ (Kornblum 2001). Die „unstete Zeit“ und das „weltweite Durcheinander“, eine ebenso begriffslose wie larmoyante Formulierung für das Zerbrechen des modernen warenproduzierenden Systems an seinen eigenen Widersprüchen, macht die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges erst recht zur Instanz des Gesamtimperialismus, hinter deren Räson alle Binnenkonflikte und Reibereien zurücktreten müssen.
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