Ich fing an, mich zu verteidigen: „He, was soll der Scheiß hier? Welcher Kollege ist hier auf einem Geistertrip? So einen Mist habe ich noch nie gehört!“ Gut, Markus, gib Ihnen Saures!
„Herr Blume, in der letzten Woche hat ein Kollege Sie in der Wandlitzer Allee arbeiten gesehen!“
„Na und?“
„Wir haben das Grundbuch eingesehen: Sie stehen als Besitzer im Grundbuch – und sonst kein anderer!“
Sie war offen, die Büchse der Pandora. Hilfesuchend blickte ich zu Ralf. Natürlich konnte er mir nicht helfen; er wusste überhaupt nicht von meinem Plan.
„Herr Jansen, ich habe das Grundstück von einem Notar Bernstein gekauft, der es vorher ersteigert hatte.“
Jansen lachte. „Haben Sie mal in Ihren Vertrag gesehen, Herr Blume? Unter Punkt 4, Absatz 3, steht: Ein Mitarbeiter darf ein Objekt aus seinem Bestand nicht erwerben. Eine Sperrklausel von einem Jahr ist bindend verankert!“
„Ich möchte aus meiner Sicht zu der Situation nichts mehr sagen.“ Schweigend verließ ich den Raum.
Bestürzung, Zukunftsangst durchzog mich – der Lotse ging von Bord auf stürmischer See. Ich spürte das Salz des Ertrinkenden. Im Zimmer verging die Zeit, sie zog wie im Schneckentempo einher.
Ein Klopfen riss mich zurück ins Jetzt. Die blöde Sekretärin von Jansen stand in der Tür. „Der Chef möchte sie sprechen, Herr Blume.“
Ich folgte ihr, nein, meine Füße folgten ihr Schritt um Schritt – dem unvermeidlichen Abgrund entgegen. Im Vorzimmer ließ mich der Sack eine Stunde warten. Dann war ich an der Reihe.
„Herr Blume, ich möchte Ihnen hiermit vorab die mündliche Kündigung aussprechen. Sie haben in eklatanter Manier unserem Ansehen in der Abteilung geschadet …“
Halt deine Fresse , hörte ich meine innere Abwehr sich melden.
Ein Schwall von Vorwürfen ergoss sich über mich; schließlich unterbrach ich ihn schroff. „Es reicht, Herr Jansen, ich nehme die Kündigung an! Auf sechs Monate haben Sie meine Kündigungszeit festgeschrieben. Bis Dezember also!“
Ich ging, ohne ein weiteres Wort, ging …
… einer unbekannten Zukunft entgegen.
Markus – Markus? Bitte sei still!
*
Im Vorzimmer sah ich meine Akte liegen. Die dusslige Sekretärin war nicht da. Mein Blick erfasste den Moment fingerschnell – ich blätterte durch die Seiten, dem Verräter auf der Spur. Der Name sagte mir alles: blutjung, unschuldiges Gesicht, aber schon ein Arsch, der Kollegen anscheißt!
Auf dem Flur, nur zwei Meter von meinem Büro entfernt, lief er mir über den Weg, mein junger Kollege Zerner. Sein Blick berührte mich nicht, er schaute an mir vorbei. Blitzschnell zog ich ihn rücklings am Kragen, packte ihn in mein Zimmer und schubste ihn in die Ecke neben dem Aktenschrank. Die Tür flog hinter mir zu.
„Zerner, du Verräterschwein! Verdammt noch mal, warum hast du nicht mit mir gesprochen, bevor du mich ans Messer geliefert hast? Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass so ein junger Talentierter ein Spion sein kann!“
Nach Atem ringend versuchte er, mir seine Situation zu erklären. Er scheiterte kläglich; seine Beweggründe waren zu banal, um bei mir Mitleid zu erregen. Ich wurde zornig. Er giftete zurück: Ich, nicht er, sei ein Verräter des Teams!
Ich rief: „Was weißt du junger Kerl schon davon?“
Die Situation eskalierte. Er bedrängte mich, wollte mich aus dem Weg haben. Nein, Markus, gib nicht auf! Ich stürzte über den Tisch, landete auf dem Boden. Du brauchst nicht zurückstecken, alter Freund!, hörte ich meinen inneren Schweinehund bellen. Ich schubste zurück, er fing an, mich mit den Fäusten zu bearbeiten. Es wurde ein Ringkampf. Ich schmeckte Blut, ein Schlag traf meine Nase. Dann wurde ich zum Stier: Schlag auf Gegenschlag prasselten meine Fäuste nieder, ich wollte meinen letzten Kampf gewinnen, wenn auch nur für kurze Zeit! Bei einer rechten Geraden auf sein Kinn wurden seine Beine weich; blutend sank er mir zu Füßen.
„Das hast du nun davon, Zerner!“
Die Tür schwang auf, Ralf stürzte ins Zimmer. „Oh mein Gott, Markus, was ist denn hier los?“
„Der kleine Verräter hier wollte nicht zuhören! Er hat mich angegriffen! Übelste Beschimpfungen musste ich ertragen!“
Mein Adrenalinspiegel sank endlich, meine Beine und mein Körper begannen zu zittern. Ich war fertig mit mir – und auf dem Weg in eine andere Zeit.
Mein Zimmer füllte sich. Ich musste das Gebäude auf der Stelle wegen dieser Tätlichkeiten verlassen. Na und! Meine Habseligkeiten unter dem Arm, verließ ich mein altes Leben. Im Fahrstuhl traf ich meinen alten Freund H. W. Norbert. Sein Blick fiel auf meine Nase.
„Die ist aber dick, Markus. Hast du etwa mit Jansen geboxt?“
„Nein, alter Junge, mit jemand anderem. Bis dann!“
Die Straße war voller Leben. Junge Menschen im Jetzt gingen durch das Licht der Sonne. Ich ordnete meine zerrissenen Gedankenfetzen. Es war schwierig.
*
Meine ordentliche Kündigung wurde in eine fristlose umgewandelt. Mein Trotz war stärker als meine Angst: Ich war jetzt ich – allein. Na und?
In der U-Bahn spürte ich die Menschen um mich herum stärker als sonst. Die Unbekannten der Unterwelt, Reisende, die fremden Zielen entgegenfuhren. Meine Augen waren geschlossen. Ich hörte den Klang fremder Stimmen, die wellenartigen Geräusche im Zug. Es tat gut, jetzt nicht Ich zu sein, sondern nur ein Teilchen zwischen anderen. Hier lebte eine andere Kultur als unter der Sonne – sonderbare Wesen, Verhaltensregeln einer anderen Spürbarkeit des Seins. Markus, du bist schon wieder ganz der Alte. Ein Lächeln im Spiegel des Tunnels, mit meinen eigenen Augen. Ich weiß.
Ich betrachtete meine Begleiter. Ein Mann las seine Abendzeitung wie das Dossier eines Geheimdienstes, ängstlich, dass jemand neben ihm ein einziges Wort stehlen könnte. Ich war da anders: Meine Zeitung ließ ich die anderen oft mitlesen, aber auch nicht immer: Nicht jeder Nachbar war ein wirklicher. Die Menschen lesend zu betrachten war eine Erquickung: Da gab es Schnellleser, Langsamleser, Ritualleser und Kaumleser, viele Arten traf man hier an.
Der Kaumleser ist eine seltene Gattung; schlafend schafft er schon die erste Seite nicht. Der Ritualleser nimmt sein Buch wie eine Bibel in die Hand und versucht den letzten Seitenanschlag zu spüren, den er gelesen hat, um mit dem Aufschlagen fortzufahren. Der Langsamleser schaut immer auf die Uhr und verliert das Geschehen um ihn herum nie aus den Augen. Mein liebster Kandidat aber ist der Schnellleser: Stoppuhrgleich versucht er, jede Lesung mit einem besseren Quotendurchschnitt zu gewinnen …
Markus? Was ist? Wir müssen raus!
Leopoldplatz, umsteigen in die U 9, zwei Stationen bis Osloer, dann wieder umsteigen in die U 8, dann zwei Stationen bis Residenzstraße. Endlich aussteigen, der Sonne entgegen!
Die Oberwelt hatte mich wieder. Dieser Abschnitt da unten war Vergangenheit: verlorener Job, gewonnen eine andere Welt. Ich muss mich finden , hörte ich. Neue Schritte in eine unbekannte Zeit. Bäume rauschten, bunter Blätterwald, Blumen am Wegesrand. Herzzerreißend war der Tag, was mir die Zukunft wohl bringen würde? Komm, Markus, wir schaffen das! Nimm dich zusammen, wir brauchen Kraft für das, was vor uns liegt!
Der Haustürgriff grüßte mich wie einen alten Kumpel, kalt war seine Berührung, aber herzlich. Im Treppenhaus das schwache Licht der Abendsonne, leise Musik. Wohlriechende Düfte riefen in meiner Trüffelnasse Verlangen hervor, Magensäfte meldeten sich rebellisch: Wir haben Hunger!
Die Wohnung im ersten Stock. Als ich den Löwenkopf zog, erklang ein schnarrendes Klingeln. Heinz machte auf. „He, wie siehst du denn aus, Markus? Bist du etwa gestürzt?“
„Nein. Wo ist Prinz?“
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