In Europa wurden häufiger Einzelversuche in blinder graphologischer Diagnose durchgeführt, bei denen erfahrene Anwender aus den Schulen von Klages, Pulver und Saudek getestet wurden. Die Ergebnisse entsprachen in der überwiegenden Zahl der Fälle – und vervollständigten sie in vielen – den verfügbaren sozialen und klinischen Belegen in so hohem Maße, daß die ursprüngliche Skepsis der Forscher im Hinblick zumindest auf die Validität, wenn nicht sogar die Zuverlässigkeit der Methode stark gemindert wurde; man stellte fest, daß sich bei Versuchen mit handschriftlichen Kopien standardisierter Texte, zu denen allein Alter und Geschlecht der Schreibenden angegeben wurde, auf der Basis reinen Zufalls eine unbegrenzte Anzahl möglicher Persönlichkeitsbeschreibungen ergeben konnte; und daß folglich hoch spezifische Persönlichkeitsbeschreibungen, die, gerade in ihrer Spezifizierung, mit dem sozialen und klinischen Bild übereinstimmten und zu denen verschiedene Anwender mit dem gleichen methodischen Ansatz unabhängig voneinander gelangt waren, keinen Zweifel an der Validität dieser Methode lassen konnten. Allerdings stellte man, als die Methode sich weiterentwickelte, auch die Notwendigkeit fest, einen angemessenen Grad an Zuverlässigkeit zu gewährleisten, und so kam es zu den vielen Objektivierungsexperimenten, die in Deutschland zum größten Teil von den Instituten für Industrielle Psychotechnik durchgeführt und hierzulande von Gordon W. Allport und Philip E. Vernon in ihrem Buch über Ausdrucksbewegungen dargestellt wurden. Das experimentelle Setting lieferten hier in den meisten Fällen die Arbeitsbewertungen einzelner Angestellter gemäß der Beurteilung ihrer Arbeitgeber auf der einen Seite und graphologische Bewertungen ihrer entsprechenden Eigenschaften (wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit) auf der anderen. Die durch die Verwendung von Punkteskalen erreichten Korrelationen lagen alle weit oberhalb bloßen Zufalls, und zwar am auffälligsten bei denjenigen Versuchen, die graphologische Bewertungen von Robert Saudek, Richard Couvé, Gertrud von Kügelgen und besonders Kurt Seesemann einbezogen, dessen graphologische Angestelltenbewertungen eine dreiundneunzigprozentige Übereinstimmung mit den Beurteilungen der Arbeitgeber zeigten.
Erfolgreiche Objektivierungsexperimente hinsichtlich der Graphologie waren aber keineswegs auf Europa beschränkt. Erwähnt werden sollte hier Ruth L. Munroes ›Three Diagnostic Methods Applied to Sally‹ und ›A Comparison of Three Projective Methods‹ (letzteres gemeinsam mit Thea Stein-Lewinson und Trude Schmidl-Waehner), die mit sehr ermutigenden Ergebnissen vergleichende Untersuchungen von »blinden« Persönlichkeitsbeschreibungen unternahmen, die, unabhängig voneinander, auf der Rorschach-Methode, Schmidl-Waehners Kunsttechnik und der Graphologie beruhten.
Obwohl alle diese Ergebnisse eher als erste Schritte auf dem Weg hin zu einer umfassenden Objektivierung der Methoden denn als schlüssige Beweise ihrer Zuverlässigkeit angesehen werden können, erscheinen sie doch als höchst ermutigend, wenn man die Komplexität nicht so sehr der Methode selbst als ihres Gegenstandes, der Persönlichkeit, in Betracht zieht. Das grundsätzliche Problem der Gewinnung objektiver Kriterien, anhand derer Persönlichkeitsbeschreibungen – auf der Basis der Graphologie ebenso wie jeder anderen Technik – aussagekräftig überprüft werden können, wird noch verwickelter, wenn wir die relativ einfache Situation, die die für Punkteskalen geeigneten Persönlichkeitsbewertungen auf bestimmte Züge sozialen Funktionierens hin darstellen, hinter uns lassen und auf das klinisch weit interessantere Feld graphologisch gewonnener umfassender Persönlichkeitsbeurteilungen vorrücken. Um einen korrekten Bezugsrahmen für die Objektivierung solcher Beurteilungen aufzustellen, müssen wir zuerst wissen, welche allgemeine Ordnung von Phänomenen sie beschreiben, da nur dieses Wissen uns in die Lage versetzen wird, nach der korrespondierenden Ordnung von Phänomenen in der Realität zu suchen.
Im Vorfeld der systematischen Analyse, der die Schriftprobe in den verschiedenen Bewertungsdimensionen unterzogen wird, konzentriert der Gutachter sich auf die Probe als ganze, eliminiert ihren Inhalt gänzlich aus dem Beobachtungsfeld und läßt das letztere zu einem Muster von Bewegungsspuren werden. In der passiven und doch aufmerksamen visuellen Erfahrung dieses Musters spielen die spezifischen sozialen Funktionen des Schreibens für den Beobachter keine Rolle mehr, und jegliche intellektuelle Aktivität auf seiner Seite ist noch ausgeschaltet. In dieser Phase der Untersuchung und kraft ihrer kann der Gutachter nicht nur einen Gesamteindruck der Probe gewinnen, sondern auch zulassen, daß einzelne oder wiederkehrende Eigenschaften derselben seine Aufmerksamkeit erregen; und genau dieser ganzheitliche Blickwinkel wird in der Untersuchung noch einmal am Ende eingenommen, wo er zur Wiederherstellung eines eigentlichen Gesamtbezugsrahmens dient, in den die verschiedenen Beobachtungsdaten eingefügt werden können, der ihre relative charakterologische Bedeutung – ihre »Position« im Persönlichkeitssystem – bestimmt und der im Prozeß der Konzentration auf einzelne graphische Details und Bewertungsbereiche verloren gegangen sein kann. Das hierbei angegangene Phänomen ist ersichtlicherweise nicht der eine oder andere »Zug«, sondern Persönlichkeit als eine funktionale Einheit; also kann nur die Persönlichkeit als funktionale Einheit das eigentliche objektive Kriterium sein, an dem graphologische Befunde zu messen sind. Das schließt nicht die graphologische Untersuchung der Persönlichkeit hinsichtlich spezifischer Linien des sozialen Funktionierens aus (die oben zitierten europäischen Versuche konzentrierten sich alle auf Untersuchungen dieses Typus’), wohl aber jegliches direkte und isolierte graphologische Urteil zu einzelnen »Zügen«: Urteile dieser Art müssen aus der ganzen Persönlichkeitsstruktur erschlossen und dürfen nicht auf isolierten und außerhalb ihres gegebenen Gefüges interpretierten Eigenschaften der Handschrift begründet werden.
Daraus folgt, daß Quantifizierungsverfahren in der Graphologie (und möglicherweise nicht nur dort), um ihren Kern nicht völlig zu verfehlen, eher auf der Ebene umfassender Persönlichkeitsbewertungen (oder spezifischer daraus abgeleiteter Feststellungen) als auf der irgendwelcher spezifischer interpretativer Annahmen durchgeführt werden sollten: Die letzteren stellen, in ihrer individuellen Anwendung, stets nur Versuche dar, stets implizieren sie einen bestimmten Spielraum an charakterologischer Bedeutung. Die Extrempositionen innerhalb ihres Spielraums können einander hinsichtlich der sozialen und moralischen Werte diametral entgegengesetzt sein, und die Fixierung bestimmter, durch eine Bewertungsdimension eindringlich nahegelegter Züge der Persönlichkeit wird immer dadurch erreicht, daß man nichts weniger als die gesamte Konfiguration von Indikatoren inner- und außerhalb dieser besonderen Dimension in Betracht zieht. Alle anderen Vorgehensweisen sind notwendig atomistisch und nicht objektiv, insofern sie dogmatisch dazu neigen, die Bedingungen zu diktieren, unter denen ihre Gegenstände sich wissenschaftlicher Erkenntnis erschließen sollen, anstatt sie durch die Natur der zu untersuchenden Phänomene bestimmen zu lassen. In einem funktionalen Ganzen haben die Komponenten keine Signifikanz, wenn sie aus ihrer Position innerhalb dieses Funktionssystems herausgelöst werden. Wenn man eine Melodie in eine andere Tonart transponiert, bewahrt keine einzige Note ihre Identität; die Melodie aber sehr wohl. Ebenso können für ein und dasselbe Individuum in verschiedenen Lebenssituationen und in verschiedenen Perspektiven externer Beobachtung völlig unterschiedliche Konzeptionen von »Zügen« hinsichtlich des sozialen Verhaltens zutreffen, auch wenn ihr möglicher Umfang in signifikantem Maße durch die Persönlichkeitsstruktur selbst begrenzt ist; um seine Identität zu erkennen, erfordert es das Bild der gesamten Struktur.
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