Andrea Zaia
HISIAN
LAND DER SEHNSUCHT
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2015
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Coverillustration © rolffimages – Fotolia
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
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Titel Andrea Zaia
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor Coverillustration © rolffimages – Fotolia Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de
Der Sturz
Besondere Gespräche
Die Zeit
Der Urgroßvater
Heißes Wasser
Der Unfalltraum
Familiensachen
Himmelsschlüssel
Der Garten
Kindergarten
Maliguvu
Im Tierpark
Hohe Zeiten
Das Hochzeitsspiel
Fahrradfahren
Mondhelle Nächte
Schuleinführung
Familienereignisse
Ingermann-Technik
Ferien
Quarantäne
Ferien
Brand
Die Schafe
Zeit für Veränderung
Worterklärungen
Amelie war mit den Mädchen ihres Alters im Dorf unterwegs. Sie entdeckten den Ort auf ihre eigene Weise. Was verboten war, wurde interessant für sie. Die Gespräche über das Gebäude, das für alle Kinder verboten war, wurden immer hitziger. Durch ihre Neugier und die scheinbare Sicherheit in der Gemeinschaft überwanden sie alle Bedenken. Amelie ging mit den Mädchen zu dem Gebäude am Rande des Dorfes. Dorthin zu gehen hatten auch ihre Eltern streng verboten. Das mulmige Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr zwar, dass sie lieber nicht mit den Mädchen gehen sollte. Doch sie schob das Gefühl einfach weg, denn sie wollte unbedingt dazu gehören. An diesem Tag durfte sie dabei sein und das war es wert. Sie schob dieses dumme Gefühl weg, denn es erinnerte sie an das Stechen in ihrem Bauch, wenn sie zu den Mädchen kam und diese ihr Gespräch unterbrachen. Dieses Stechen war viel schmerzhafter als die Gewissensbisse jetzt, die sich leicht wegschieben ließen.
Als sie dann vor dem verbotenen Gebäude standen schlug eine Welle des Unbehagens über Amelie hinweg. Doch sie schob auch das Unbehagen beiseite.
Sie wollte mit den Mädchen spielen, so unbeschwert wie möglich. Was nützte ihr die Überzeugung nicht zu ihnen zu gehören? Diese Überzeugung hinderte sie nur daran etwas Aufregendes zu erleben.
Und Amelie wollte dazu gehören und etwas erleben. Deshalb siegte an diesem Tag ihr Wagemut.
Als die Mädchen das verbotene Gebäude umrundeten, entdeckten sie an der Rückseite eine offenstehende Tür. Mit einem mulmigen Gefühl, das von ihrem Bauch aufstieg, ging Amelie mit den anderen Mädchen dort hinein.
Drinnen war es stockdunkel, grauslich und zugleich faszinierend. Für Amelie hatte sich mit Betreten des dunklen Raumes alles geändert. In dem Augenblick in dem sie die Dunkelheit betrat, war sie nicht mehr sie selbst. Sie hatte alle Warnungen ihres Wesens beiseite geschoben und so konnte sie sich nun der Faszination, die sie mit voller Wucht traf, nicht mehr entziehen.
Amelie war wie entrückt und wurde gleichzeitig wie magisch in die Dunkelheit gezogen. Das Gefühl in ihrem Bauch hatte sich total verändert. Der Schmerz war verschwunden. Dafür breitete sich eine heiße Welle von ihrem Bauch bis zu ihrem Kopf aus. Sie war vollkommen eingenommen von dieser heißen Welle. Amelie folgte ihrem Gefühl ohne nachzudenken. Sie wurde magisch angezogen. Was sie anzog war ihr überhaupt nicht klar. Sie musste einfach weiter gehen, immer weiter.
Die anderen Mädchen riefen, sie solle zurückkommen.
Amelie hörte sie wie durch einen Nebel aus weiter Ferne. Irgendetwas in der Dunkelheit war stärker als die Rufe der Mädchen.
Voll auf die Dunkelheit konzentriert, war sie nun nicht mehr aufzuhalten.
Sie spürte genau an diesem Ort weitete sich ihre Welt. Sie wurde tatsächlich weiter, größer, ja interessanter. Obwohl vor ihr diese beängstigende Dunkelheit auf sie wartete.
Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte: „Geh weiter!“
Amelie tastete sich wie eine Schlafwandlerin vorwärts in das Dunkel.
Die Dunkelheit schreckte sie und zog sie gleichzeitig magisch an.
Die anderen Mädchen riefen immer noch.
Amelie ging weiter, sie war vollkommen entrückt.
Ihre tastenden Schritte veränderten sich mit jedem Zentimeter, den sie in die Dunkelheit hinein ging. Festen Schrittes ging sie weiter und plötzlich trat sie ins Leere.
Sie fiel und das Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr: „Hier ist etwas ganz und gar nicht in Ordnung!“
Im Fallen dachte sie: Ich schwebe!
Ihr Gefühl veränderte sich unterwegs wieder einmal. Sie spürte eine Leichtigkeit, die sofort ihren Bauch entlastete. Der Schmerz war verschwunden.
Und plötzlich wusste sie, sie würde ankommen.
Wo sie ankommen würde, war in diesem Moment total unwichtig. Das wohlige Gefühl in ihrem Bauch gab ihr eine Ahnung von einer Sicherheit, die sie nicht kannte. Sie war gefasst, obwohl sie fiel. Diese innere Ruhe befreite ihren Kopf von den Nebelschwaden, die sich beim Betreten des dunklen Gebäudes dort ausgebreitet hatten.
Es war finster um sie herum und sie spürte trotzdem überhaupt keine Angst.
Sie war geborgen!
Sie war nicht allein!
Das wurde ihr unterwegs in die Tiefe klar. Etwas Überirdisches hatte sie ergriffen. Sie war selbst in dieser unheimlichen Dunkelheit und im Fallen geborgen von einer unsichtbaren Hand.
Kein Schrei entschlüpfte ihrem Mund. Das Gefühl der Sicherheit in ihr wuchs und wurde zur Gewissheit. Sie würde ankommen und geborgen sein …
Mit dieser Überzeugung erschien ihr die Dunkelheit plötzlich nicht mehr bedrohlich. Oder war es nun nicht mehr so dunkel?
Die Dunkelheit war als sie aufgefangen wurde, verschwunden und Amelie schien angekommen zu sein. Sie fühlte es genau. Hier war die Heimat ihres Herzens.
Wie war das möglich?
Sie war doch in die Tiefe gestürzt.
Ihr musste doch etwas wehtun!
So etwas gab es doch überhaupt nicht.
Die Gedanken wirbelten nur so in ihrem Kopf herum.
Amelie schüttelte die chaotischen Gedanken ab. Eigenartig, wie leicht ihr das an diesem Ort gelang. Das Denken war nicht ausgesetzt durch den Sturz. Sie konnte, nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung ganz normal denken.
„Wo bin ich?“ Dieser Gedanke beherrschte nun ihr ganzes Sein.
Was geschah nur mit ihr?
Wieso war sie an diesem wundervollen Ort?
Das war für Amelie überhaupt keine Frage. Für sie stand fest, dieser Ort war wundervoll!
Sie versuchte es noch einmal mit der drängendsten Frage.
„Wo bin ich?“ Diese Frage wiederholte sie eingenommen von dem Gefühl, das sich bei ihrer Ankunft eingestellt hatte.
Sie bekam keine Antwort und ging weiter. In diesem Land ging sie nicht. Das bemerkte sie als sie nach unten sah. Amelie schien einige Zentimeter über dem Boden entlang zu gehen.
Als ihr klar wurde, dass sie überhaupt keinen festen Boden unter den Füßen hatte, erschrak sie ein wenig. Diese Schrecksekunde wurde sofort von einem heißen Schwall tief unten aus ihrem Bauch heraus begleitet. Sofort war sie wieder beruhigt. In dieser Gegend schien sie nichts schrecken zu können.
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