Als er im Wald um die letzte Ecke bog, sah er, wie neben der Bank eine Gestalt unterm Regenschirm stand. Sie ist also doch gekommen! Ein Glück, dass ich nicht auf meine Bequemlichkeit gehört habe. Da merkte er, wie trotz des Wetters Freude in ihm hoch kam.
Mit den Worten: „Das ist vielleicht ein blödes Wetter. Muss denn das ausgerechnet heute regnen?“, begrüßte er sie.
Marina hob wortlos ihre Schultern und sah ihn erwartungsvoll an.
„Hier hinten ist gleich eine große gemauerte Eisenbahnbrücke. Gehen wir am besten dort hin. Darunter ist es wenigstens trocken.“
Sie nickte und so gingen sie die 150 Meter bis zur Brücke. Hier staunten sie nicht schlecht, denn auch unter der Brücke stand eine alte Gartenbank. Sicher hatte die mal irgendjemand bei Regen hierher getragen. Sie schlossen ihre Schirme und setzten sich.
Nun erzählten sie wieder über ihre Erlebnisse in der Schule und im Schulchor, über die Lehrer, die sie mochten und die, auf die sie damals sehr gern verzichtet hätten.
Nach einer Stunde sagte sie: „Mir ist kalt. Ich muss nach Hause.“
Auch Wolfgang kroch die Nässe langsam unter die Sachen. Er nickte und antwortete: „Ich habe Zeit und bringe dich nach Hause.“ Gespannt wartete er ihre Reaktion ab. Doch sie nickte nur. Also standen sie auf und verließen den Wald in ihre Richtung.
Vor ihrem Haus fragte er sie: „Darf ich mich bei dir etwas aufwärmen? Meine Schuhe sind durch.“
Marina holte tief Luft, sah ihn traurig an und erwiderte: „Ich verstehe dich, aber ich bin nicht auf Besuch vorbereitet.“
„Aber das macht doch nichts. Darf ich mich trotzdem etwas aufwärmen?“
Verständnisvoll nickte sie. Auf der Treppe erklärte sie ihm, dass sie mit zwei Studentinnen in einer Wohngemeinschaft leben würde und nur ein Zimmer hätte. Dabei beobachtete sie ihn ängstlich, wie er wohl darauf reagieren würde. Doch Wolfgang sagte nur lächelnd: „Hauptsache es ist warm und trocken.“
Eine der beiden Studentinnen begrüßte ihn in der Wohnung mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ihre Ablehnung ihm gegenüber war deutlich zu spüren. In Marinas Zimmer sah sich Wolfgang um und wunderte sich, wie spartanisch sie doch lebte.
Als ob sie es erraten hatte, erklärte sie ihm: „Wundere dich bitte nicht. Ich erkläre dir gleich, warum ich hier so einfach eingerichtet bin. Erst einmal koche ich uns einen Kaffee zum Aufwärmen.“
„Mir bitte nicht. Ich trinke keinen Kaffee.“
„Was trinkst du dann?“
„Tee, aber bitte keinen Schwarzen.“
„Kräutertee?“
„Ja gern.“
Marina verschwand in die Küche und Wolfgang sah sich noch einmal in ihrem Zimmer um. Hier stand wirklich nur das Notwendigste, ein Schrank, eine Couch, ein Tisch, zwei Stühle, ein Computertisch mit Schreibtischstuhl und ein kleines Schränkchen, auf dem ein Kofferradio stand. Er setzte sich auf die Couch und überlegte, wie er das Mittagessen lösen könnte. Schließlich war es schon nach 13.00 Uhr und sein Magen meldete sich langsam. Doch da kam Marina schon mit zwei dampfenden Tassen herein und setzte sich neben ihn.
Nun begann sie seufzend: „Ich hatte auch mal eine kleine, aber nett eingerichtete Wohnung. Später habe ich meinen Freund kennen gelernt und bin irgendwann zu ihm gezogen. Da er eine komplette Wohnung hatte, habe ich mich von dem meisten aus meiner Wohnung getrennt. Voriges Jahr im September ist er mit seinem Motorrad tödlich verunglückt. Kurz danach haben seine Eltern darauf bestanden, dass ich möglichst bald aus seiner Wohnung ausziehen möge, aber all sein Hab und Gut dabei zurück lassen soll. So bin ich hier in der WG gelandet. Ich wohne erst seit zwei Monaten hier. Das ist alles, was ich mitnehmen durfte.“ Sie hob die Schultern und sah ihn wie ein Häufchen Unglück an.
„Und deine Eltern?“
„Die sind gleich, nachdem ich meine Wohnung hatte, zur Schwester meiner Mutter in den Schwarzwald gezogen.“, meinte sie und in ihrer Stimme schwang leichte Wehmut mit. „Ich war kein Wunschkind und das habe ich immer gespürt.“ Traurigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Dann kam ein Freund und ich habe geglaubt, jetzt endlich eine richtige Familie gefunden zu haben.“
„Du hast ihn sicher sehr gern gehabt?“
Sie wiegte mit dem Kopf und nickte anschließend. „Die große Liebe war es nicht. Trotzdem hatte ich ihn gern. Aber er war wohl mehr in sein Motorrad verliebt als in mich.“ Dann hob sie wieder ihre Schultern und sah Wolfgang fragend an.
„Da bist du vom Leben aber auch nicht gerade verwöhnt worden.“
Wieder nickte sie und zuckte mit den Schultern.
Er nahm einen Schluck. Den angebotenen Zucker lehnte Wolfgang ab. Der Tee schmeckte auch so.
„Später werde ich mir auch wieder eine richtige Wohnung suchen, aber dazu muss ich erst einmal genug Geld zusammen haben.“
„Und was arbeitest du?“
„Ich bin Frisörin, aber dabei kann man nicht reich werden. Deshalb wohne ich ja vorläufig hier.“
„Friseuse?“, sagte Wolfgang anerkennend. „Und wie sind die beiden Studentinnen?“
„Ach, die sind schon in Ordnung. Aber sie leben natürlich ganz anders als ich.“
„Ja klar, Studenten.“ Er wusste, wie Studenten leben.
„Ich kann dir nicht einmal etwas anbieten. Du bist mein erster Besuch, seit ich hier wohne.“
Wieder sah Wolfgang in ihre unglücklichen Augen. Kurz entschlossen sagte er ihr: „Ich lade dich ein. Wir gehen essen.“
Marina sah ihn erstaunt an und nickte leicht.
Nachdem sie ausgetrunken hatten, verließen sie die Wohnung und fuhren mit der Straßenbahn die drei Haltestellen bis zu Wolfgangs Straße. Vor seinem Haus stand sein Auto. Mit diesem fuhren sie jetzt zu einer Gaststätte, die Wolfgang recht gut kannte. Sie war abseits der Zivilisation an einem Wäldchen, in dem zu DDR-Zeiten ein Schießplatz war.
Marina wunderte sich beim Essen, dass Wolfgang vegetarisch bestellt hatte. Deshalb fragte sie: „Du isst kein Fleisch?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht mehr! Mir tun einfach die Tiere leid, die sterben müssen, nur damit ich Fleisch essen kann. Ich will nicht, dass sie wegen mir ihr Leben lassen müssen.“
Erstaunt sah sie ihn an. „So habe ich das noch nie gesehen.“
Nach dem Essen spazierten sie dann noch durch das kleine Wäldchen, welches zu einem Berg gehörte, der Bienitz hieß. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen und Wolfgang zeigte ihr hier, wo er als Kind oft Ski gefahren war. Marina kannte zwar den Bienitz aus den Erzählungen anderer, ist aber selbst nie hier gewesen. Abends brachte Wolfgang sie wieder nach Hause und fragte sie nach dem morgigen Sonntag.
Am Tag darauf holte er Marina nachmittags von ihrer Wohnung ab und lud sie nach dem ausgedehnten Waldspaziergang zum Teetrinken in seine kleine Zweiraumwohnung ein.
Hier bei ihm zu Hause erzählte Marina, dass die Mädchen damals im Schulchor immer ehrfürchtig zu den großen Jungs hochgeschaut hatten. Doch als er ihr vor fast zwanzig Jahren auf der Chorfahrt im Februar in der Jugendherberge eine Musikkassette repariert hatte, bewunderte sie ihn. Auf der Kassette war Musik von den Puhdys und ihr Kassettenrecorder Mira hatte beim Zurückspulen das Band zerrissen. Damals war sie unendlich traurig, weil es ihre Lieblingskassette war. Und er hatte damals viel Verständnis für sie, ließ sich die Kassette geben und brachte ihr sie in wenigen Minuten repariert zurück. Sie freute sich schon damals immer, wenn sie ihn in der Schule oder irgendwo anders zufällig traf.
Nun hatte sie ihn auch nach langer Zeit bei den Begegnungen im Wald sofort wieder erkannt.
Da versuchte Wolfgang erneut Erinnerungen an sie in sich zu finden, aber da war nichts. Deshalb fragte er: „Wo war denn das mit der Jugendherberge?“
„In den Winterferien in Goseck. Kennst du das noch?“
Читать дальше