Domin ließ nicht locker. Sie nahm Kontakt mit dem STERN-Journalisten Jürgen Serke auf und drückte ihm im Februar 1980 den Privatdruck mit Selmas Gedichten in die Hand: »Lies mal. Gedichte zum Weinen schön. Mach was draus.« Schon im Mai desselben Jahres machte sich Serke im Auftrag des STERN auf den Weg nach Israel und brachte die »Geschichte einer Entdeckung« nach Deutschland.
Das Schicksal der jungen Dichterin berührte mich tief.
Der Siegeszug von Selmas Gedichten begann, doch die Vernichtungstaktik der Nazi-Schergen schien Erfolg gehabt zu haben: Dünn gesät waren die Erinnerungen der wenigen Überlebenden an das junge Mädchen. So begnügte sich die Literaturwelt mit der Annahme, dass Selmas traurige Lebensgeschichte »zu kurz und zu dürftig schien, um daraus eine spannende narrative Geschichte zu entwickeln«.
Doch es gab noch Klassenkameradinnen und vor allem eine Freundin aus Selmas zionistischer Gruppe Hashomer Hazair, mit denen ich Kontakt aufnehmen konnte. Ich habe mit Bekannten und Verwandten in den USA und in Israel gesprochen und Selmas Verwandte in Deutschland getroffen. Im ukrainischen Regionalarchiv in Czernowitz sah ich Schulunterlagen ein.
Aus den Erinnerungssplittern und dank jüdischer Geburts-, Hochzeits- und Sterberegister sowie der vorhandenen Archivunterlagen konnte ich Selmas Lebensgeschichte zusammensetzen – und Selma ihren richtigen Namen zurückgeben: Sie hieß nie anders als Selma Merbaum.
Selmas Persönlichkeit zeigt sich von einer neuen Seite. Sie war eine politisch engagierte, selbstbestimmte junge Frau. Selmas Gedichte lesen sich neu. Sie sind mehr als »sehnsüchtige Liebesgedichte« einer unerwiderten Liebe zu einem jungen Mann. Sie sind eine Liebeserklärung an die Natur der Bukowina und zeugen von der sensiblen Empfindsamkeit eines erwachenden jungen Lebens. Die Verse erzählen von Glück und Sorge, von Freude und Wehmut, von Aufbegehren und Angst, von Sehnsucht und Trauer. Sie reflektieren aber auch souverän die Turbulenzen der verschlungenen Geschichte einer Landschaft, die – davon war Paul Celan überzeugt –»den meisten von Ihnen unbekannt sein« dürfte. In ihr lebten »Menschen und Bücher«. Menschen, mit denen das Schicksal wenig sanft umgegangen ist und die dem Vergessen entrissen werden müssen.
I.
»Czernowitz, das waren Sonntage, die mit Schubert begannen und mit Pistolenduellen endeten. Czernowitz, auf halbem Weg gelegen zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgertöchter Koloratur sangen und die Fiaker über Karl Kraus stritten. Wo die Bürgersteige mit Rosensträußen gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien. Czernowitz, das war ein immerwährender intellektueller Diskurs, der jeden Morgen eine neue ästhetische Theorie erfand, die am Abend schon wieder verworfen war. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen und die Hühner Hölderlin-Verse in den Boden kratzten. Czernowitz war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte. Czernowitz war ein Traum. Die glückliche Ehe der Habsburger mit dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum, das diesen Außenposten der k. u. k. Donaumonarchie am Rande der bessarabischen Steppe zu einem ökonomischen und vor allem kulturellen Zentrum Osteuropas machte.« *
Schritte knirschen in Schneemusik 1
Der 5. Februar 1924 war ein klirrend kalter Wintertag. In Czernowitz hatten sich die Menschen längst gegen die beißende Kälte gerüstet und eigens angefertigte »Fensterpolster« oder zusammengerollte Handtücher zwischen die Doppelscheiben in ihren Wohnungen geklemmt, um den Frost abzuhalten. Der dennoch durch die Ritzen kroch und seine Eisblumen an die Fensterscheiben hauchte.
Unwirsch rebellierte der nahe Fluss unter seiner eisigen Decke:
Liegt das Eis so schwer und weiß
und es hindert jede Regung.
Ist der Fluß so still – ohne Bewegung,
möchte doch gern schäumen, wild und heiß. 2
Friederika Merbaum hatte sich an jenem Dienstag auf den Weg in die »Maternitatea« gemacht. Dort sollte ihr erstes Kind zur Welt kommen. Kein leichter Entschluss – denn wer es sich leisten konnte, mied die Gebäranstalt.
Da mochte die Wohnsituation in den eigenen vier Wänden beengt sein, es an Hygiene mangeln und deshalb die Sterblichkeitsrate bei Hausgeburten deutlich höher sein: Wer auf sich hielt, holte sich eine private Hebamme und entband zu Hause. Wer mag Frieda bei der Geburt beigestanden sein? Gebären war Frauensache. Mütter, Cousinen und Tanten hatten mitzuhelfen.
Die Merbaums nannten ihre kleine Tochter Selma. »Selma Merbaum« trug der Angestellte der jüdischen Gemeinde unter der laufenden Nummer 87 auf Blatt 330 des jüdischen Geburtsregisters der Stadt Czernowitz ein.3

Geburtsregistereintrag: Selma
Mit Schwung und Elan setzte er die Anfangsbuchstaben. Merbaum hießen auch Selmas Eltern und dokumentierten mit dem gemeinsamen Namen obendrein, dass ihre Trauung nicht nur nach jüdischem Ritual vollzogen worden war. Selma war »legitimă«, eine eheliche Tochter. Und Selma war rumänische Staatsbürgerin. Das war nicht selbstverständlich.
Czernowitz war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die Hauptstadt der Bukowina4, des östlichsten Kronlandes der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie gewesen. Die Bukowina war 1775 nach Ende des Russisch-Türkischen Krieges in den Besitz Österreichs übergegangen.
Mit dem Ende der k. u. k. Monarchie war diese Region mit seiner wechselvollen politischen Geschichte zum Spielball der Machtpolitik geworden. Russen, Ukrainer und Rumänen stritten um die Vormachtstellung. Rumänien setzte sich militärisch durch. Im Vertrag von St. Germain 1919 und endgültig 1920 wurde Rumäniens eigenmächtige erfolgreiche Besetzung der Bukowina legitimiert – Czernowitz gehörte nun zum Königreich Großrumänien. Wer als rumänischer Staatsbürger gelten durfte, hatte König Ferdinand I., ein Hohenzollernspross, in der neuen rumänischen Verfassung vom 28. März 1923 festgelegt: nur noch derjenige, der schon vor dem 18. November 1908 seinen Wohnsitz in der Bukowina hatte oder »heimatberechtigt« in Rumänien war. Meldegesetze hatte es nicht gegeben, viele hatten deshalb auf eine ordentliche Registrierung verzichtet. Mit einem Federstrich waren sie staatenlos geworden. Zweifelte der Beamte also die Rechtmäßigkeit der Angaben an, so dokumentierte seine dienliche Schrift in den Gemeindebüchern gewissenhaft, dass der Antragssteller »pretins cetatean romăn« nur angibt, rumänischer Staatsbürger zu sein.5
Selma war Jüdin. Jüdin ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren worden ist. Selmas Großeltern waren jüdisch-orthodox. Großvater Israel Schrager war obendrein Kantor in der alten orthodoxen Synagoge der jüdischen Gemeinde, der »Alten Shil«. So lag es nahe, dass auch die junge Familie Merbaum die jüdische Religion in ihrer Familie praktizierte.
Das war in Czernowitz nicht ungewöhnlich – zumindest eine »Grundausstattung« der jüdischen Religion hielten selbst assimilierte jüdische Familien parat: eine »Bibel, ein Gebetbuch, Schriften auf Hebräisch und Jiddisch, die Menora, den jüdischen Kerzenleuchter, und einen ziselierten Kidduschkelch, über dem der Segensspruch gesprochen wurde, der den Sabbat einleitete«6.
So steht er da: so blitzend und so schlank,
wie eine nackte Jungfrau die dem Meer entstiegen
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