»Wie lang, glaubst du, kann Hop-Tep noch durchhalten mit dem restlichen Serum?«, fragte Tom, obwohl er gar nicht so sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
Vlarad blickte ernst in die Runde. »Meinen Berechnungen zufolge kommt unser ägyptischer Prinz damit in etwa bis Halloween.«
»Was?«, rief Mimi erschrocken. »Das ist ja …«
»… in weniger als drei Monaten, richtig«, beendete Vlarad ihren Satz. »Danach ist der Verfall seiner sterblichen Anteile nicht mehr aufzuhalten. Er mag bei guter Pflege seiner Bandagen und regelmäßiger Neubalsamierung noch Wochen oder gar Monate überstehen. Da sein Fall absolut einzigartig ist, kann ich nicht sagen, wie lange es dauert, bis er vollständig zu Staub zerfallen ist.«
»Oh Mann …« Gestresst quetschte Tom seine Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger und presste die Augenlider zusammen, als hätte er plötzlich rasende Kopfschmerzen. »Wir haben doch gerade erst Wombie davor gerettet, an seinem Getodstag vom Wind verteilt zu werden, und nun droht uns das Gleiche mit unserem ägyptischen Prinzen.«
Als er begann, hell flackernde Punkte zu sehen, öffnete er die Augen und rieb sich stattdessen die Schläfen. »Was ist das eigentlich für eine Sache mit euch Untoten und diesem andauernden Zu-Staub-zerfallen-Ding?«
»Mach dir da keine Illusionen, Junge«, winkte der Vampir ab. »Auch ihr Menschen zerfallt irgendwann zu Staub. Bei euch sieht es nur deutlich langweiliger aus.«
»Dann bin ich auch irgendwann mal langweilig zerstaubt, oder?«, warf Mimi ein. »Schließlich war ich auch mal menschlich.« Dann kicherte sie. »Hihi, also zumindest nehm ich das jetzt mal an. Genau weiß ich es natürlich nicht. Ich erinnere mich ja blöderweise nur so weit zurück, wie ich ein Gespenst bin.«
»Du weißt, wie ich darüber denke, junges Fräulein«, antwortete Vlarad. »Du kannst es bedauern oder du kannst froh darüber sein. Ich rate zu Letzterem, denn man wird nicht ohne Grund ein schicksalsgebundener Geist, wie du einer bist. Meist ist das Schicksal ein grausames solches. Viele andere Wesen, die dergleichen erleben, wären froh, wenn sie vergessen könnten, was ihnen widerfuhr.«
Tom bemerkte den Seufzer, mit dem der Vampir den letzten Satz begleitet hatte. Stimmt, dachte er, ich weiß auch gar nix über Vlarads Geschichte, bevor er zum Vampir wurde.
Er beschloss, hier mal bei Gelegenheit vorsichtig nachzubohren. Aber nun hatten sie ja andere Probleme.
»Gibt es denn irgendetwas, das wir für Hop-Tep tun können?«, fragte Tom, aber der Vampir schüttelte den Kopf.
»Um ehrlich zu sein, ich wüsste nicht, was«, sprach er leise und blickte dann ausdruckslos ins Leere.
Tom hatte den Vampir noch nie so niedergeschlagen erlebt, und auch Mimi tauschte einen besorgten Blick mit ihm aus. Doch da erhob sich der Graf plötzlich und straffte sich, als würde er Körper und Geist zur Ordnung rufen.
»Nein! Das ist nicht akzeptabel!«, rief er und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Ich bin mir sicher, dass irgendetwas Essenzielles meiner Aufmerksamkeit entgeht, und will abermals doppelt und dreifach verdammt sein, wenn ich da nicht bald draufkomme, Hölle und Brut!«
Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal zu dem Geistermädchen um: »Es freut mich zu sehen, dass du nach über zweihundert Jahren endlich mit den Übungen zur Teilmaterialisierung begonnen hast. Sobald sich ein Effekt bei dir einstellt, meldet euch bitte bei mir, damit ich den abschließenden magischen Spruch anwenden kann.«
Erstaunt blickte Tom zu Mimi, doch das Gespenstermädchen mied seinen Blick …
Kapitel 2: Verlorene Zeit
Tom spürte, wie ihm eine seltsame Art von Enttäuschung ins Herz gekrochen kam, um sich dort häuslich einzurichten. Es fühlte sich nicht gut an. »Du … du hast die Übungen schon mal von Vlarad gesagt bekommen? Vor so langer Zeit? Und du hast niemals …«
Plötzlich stand der Graf wieder vor Tom, musterte ihn seltsam und fuhr dazwischen: »Wo sollte sie die Übungen denn sonst herbekommen haben, wenn nicht von mir?«
Tom war verwundert über diese Reaktion. »Na, aus deinen Notizbüchern, die du mir in die Hand gedrückt hast. Da standen die drin. Zwar ohne den finalen Zauberspruch, aber dafür müssen wir ja eh zu dir kommen.«
Augenblicklich entspannte sich der Vampir: »Die Abschrift … Nur die Abschrift … natürlich. Ja, das ist selbstverständlich völlig in Ordnung. Entschuldige bitte, mein Junge.«
Bevor Tom genauer nachfragen konnte, was Vlarad meinte, wandte der sich schon an Mimi: »Wie sagt man so schön: Besser spät als nie. Trotzdem ist es schade um all die verlorene Zeit, wenn ich das so sagen darf. Hättest du seinerzeit direkt mit dem Training begonnen, wärst du jetzt schon einen bedeutenden Schritt weiter. Du könntest Objekte berühren, greifen und sogar für eine begrenzte Zeit festhalten.«
»Echt jetzt?«, entfuhr es Tom schärfer als er es beabsichtigt hatte.
»In der Tat. Aber wie sagt man noch so schön: Können ist einfach, können wollen meist schwer«, antwortete der Vampir und nickte professoral in Richtung des Gespensts. »Wie dem auch sei, ich bin mir sicher, deine Lernkurve wird sehr bald steil nach oben zeigen, meine Liebe. Du wirst schnell erste Erfolge verzeichnen.«
Mimi antwortete nicht, aber Tom fragte hoffnungsvoll nach: »Sehr bald? Was genau meinst du denn damit?«
Vlarad warf einen undurchdringlichen Blick in die Runde. »Zeit ist relativ, mein Junge. Ich wünsche eine geruhsame Restnacht allerseits. Wenn ihr mich sucht, ich bin in meinem Labor.«
Damit drehte er sich um, stakste durch den überdachten Durchgang hinüber in die Geisterbahn und schloss die Tür hinter sich.
Tom stand mit offenem Mund da. Erst als die Schritte des Vampirs nicht mehr zu hören waren, drehte er sich auf dem Stuhl zu Mimi um. Einen Moment lang wusste er gar nicht, was er sagen sollte.
Das Geistermädchen schwebte mitten im Raum und ließ den Kopf hängen, als hätte man sie mit dem Kragen an einem Garderobenhaken befestigt.
Schließlich fand Tom seine Stimme wieder: »Du kanntest diese Übungen schon seit zweihundert Jahren und hast die noch nie gemacht?« Er klang so bitter und vorwurfsvoll, dass er selbst darüber erschrak.
Mimi nickte stumm, und sofort bereute er seinen scharfen Ton. Tom stand auf und ging seufzend zu ihr hinüber.
»Oh Mann … Bitte entschuldige, Mimi«, flüsterte er und streckte unwillkürlich die Hand nach ihr aus. Bevor er es bereuen konnte, schaute das Geistermädchen bereits traurig auf die Hand, die es ja doch nicht berühren konnte. Mimi blickte wieder auf zu Tom.
Der kniff die Lippen zusammen, schimpfte lautlos in sich hinein und zog die Hand zurück. Genau das war ihm leider schon ein paarmal passiert, und er hatte sich eigentlich fest vorgenommen, dass es nie wieder vorkommen würde.
»Schon okay …«, murmelte Mimi, und Tom suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. Aber leider hatten sich alle Buchstaben gerade gegen ihn verschworen und bildeten in seinem Hirn nur lauter sinnlose Wortgebilde. Weder »Brögldompf« noch »Gniebelfips« oder »Wuggu-Wuggu« würden die Situation verbessern, da war sich Tom sicher. Also sagte er besser nichts.
In dem Moment öffnete sich die Tür des Zirkuswagens und Onkel Welf trat herein. Er wirkte seltsam gehetzt und blickte sich unruhig im Raum um. Seine geballten Fäuste steckten in den Taschen der abgewetzten Lederjacke. In den ersten Wochen seiner Zeit als Ghostsitter wäre Tom noch alarmiert gewesen und hätte sofort gefragt, ob etwas Schlimmes passiert sei. Das war jetzt nicht mehr nötig. Tom wusste genau, warum Welf hereingekommen war und wieso er sich so seltsam verhielt.
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