Dieses Muster hat mich nicht verlassen. Ich habe zu keiner Zeit meines Lebens gewusst, wo ich hingehöre. Immer rissen mindestens zwei Wirklichkeiten an mir und forderten eine Entscheidung. Sie hielten meine Seele unter Spannung: Gut und Böse, Hell und Dunkel, Trauer und Freude. Diese Spannung hat mich frei gemacht, mich zu entscheiden, doch was soll ich mit einer solchen Freiheit? Ich verfluche sie. Heute weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich bin: ein König, ein Baron, ein Kaufmann oder einfach ein Idiot, der tatsächlich glaubt, dass es einen Ort der Geborgenheit gibt, an dem der ewige Zwiespalt seiner Seele ein Ende hat? Ich werde es wohl nicht mehr herausfinden – aber er kann es. Wenn er meinen Brief eines Tages erhält. Er wird verstehen, was ich nicht verstehe. Julia, komm, ich will dir erzählen, wie es wirklich war. Schreib es auf, bitte ... Julia!
»Theodor zeigte in allen ritterlichen Übungen Mut und Gewandtheit. Waffen und Kriegswesen waren seine
früheste Beschäftigung, während zugleich die Gewöhnung des Hoflebens den Sinn bedeutender Verhältnisse und geselliger Feinheiten in ihm ausbildete.«
K. Varnhagen von Ense, Biographische Denkmale
Lord Kilmarnok betrachtete sein grün unterlaufenes Auge im Spiegel und fluchte laut vor sich hin. Die Beschimpfungen verfingen sich in den schweren golddurchwirkten Vorhangstoffen, und für einen Moment schien es dem Adligen, als verdunkelten seine Worte das exquisit eingerichtete Zimmer der Herberge an der Themse. Im Laufe des Tages hatte der Ärger über sein Versagen immer weiter zugenommen und sich zuletzt mit einer beängstigenden Verzweiflung verbunden, die nach und nach Besitz von ihm ergriff. Es war nicht nur der Ärger über den verfehlten Schuss, sondern das Erschrecken darüber, dass er derart die Kontrolle über sich verloren hatte. Eine eigentümliche Scham erfüllte ihn, ohne dass er dieses zermürbende Gefühl hätte näher beschreiben können; eine Demütigung, ein Unbehagen, das sein ganzes Dasein in Frage stellte, als wären die in ihm angestauten Gefühle wie ein Tor zur Seite geschwungen und hätten den Blick auf einen dahinter liegenden Abgrund freigegeben, in dessen Tiefe er zu stürzen drohte. Die Glockenschläge, die von Big Ben herüberzogen, hallten dumpf in seinem Kopf nach, und Lord Kilmarnok stellte sein Whiskyglas so fahrig auf den Tisch, dass sich der Inhalt über den Rand auf den Tisch ergoss.
Am frühen Nachmittag hatte der Adlige seinem Diener, einem untersetzten, dunkelhaarigen Schweizer namens Felix, harsch befoh len, die eben in den Schränken verstauten Kleider wieder einzupacken und eine Überlandkutsche zu bestellen. Er verspürte das dringende Bedürfnis, den Ort seiner entblößenden Niederlage so schnell wie möglich zu verlassen. Doch während er dem unterwürfigen Begleiter beim Zusammenlegen der seidenen Hemden zugesehen hatte, war ihm zunehmend bewusst geworden, dass er nicht vor dem floh, was geschehen war, sondern vor dem, was geschehen könnte. Sein spontaner Vorschlag, diese Frau in Hosen für etwas zu bezahlen, das ihm Schmerzen bereiten würde, kam ihm inzwischen gänzlich absurd vor. Ärgerlich wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn, der immer dann auftrat, wenn er sich verunsichert fühlte. Die Vorstellung, sich erneut der Geschichte seines Feindes stellen zu müssen, die er doch in seiner Fantasie schon Tausende von Malen durchlitten hatte, erschreckte ihn zutiefst. Sie war bei aller Abscheu im Laufe der Jahre zu seiner eigenen Geschichte geworden und vertrug keine Korrekturen.
Schwer ließ sich der Lord in einen der Sessel am Fenster fallen. Er wollte sich gerade zur Beruhigung eine Zigarre anstecken, als er bemerkte, dass sich das von draußen einfallende Licht verändert hatte: Unruhig schwamm es durch die Glasscheiben und brach sich wie Wellen im Spiegel. Die große Brücke vor dem Fenster brannte! Er sprang wieder auf und starrte durch die Vorhänge hindurch in den weiten Feuerwall, der die über den Fluss gezogene Häuserreihe in ein zuckendes Abendrot tauchte. Wie rötliche Geysire schossen die Flammen bis zu den Kaminen empor und züngelten hämisch gen Himmel, als wollten sie das Dunkel aus der hereinbrechenden Nacht lecken. In den Torbögen der Gebäude flogen Funken umher und suchten gierig nach Nahrung. An den Wänden aber wiegten sich im Rhythmus des Flackerns die Schatten der Menschen, die verzweifelt versuchten, den heißen Wellen Einhalt zu gebieten.
Verwirrt beobachtete der Lord, dass einige der Umstehenden heftig Beifall klatschten, als forderten sie eine Zugabe. Einer von ihnen, ein langer, dunkelhaariger Arbeiter mit schwerem Matrosengang, stellte sich den Löschmannschaften in den Weg und trat demonstrativ gegen die schweren Holzeimer der Helfer, bis das Wasser hinausschwappte. Kurz darauf kam es zwischen den verschiedenen Gruppen zu ersten Schlägereien. Wütende Schreie hallten durch die Gassen. Der Adlige wollte sich gerade abwenden, als er unter den zahllosen Schaulustigen, die das Feuer angelockt hatte, auch das kleine Mädchen bemerkte, das ihm am Vormittag den Weg gewiesen hatte. Es stand wohl auf einer Tonne oder etwas Ähn lichem und lugte neugierig über die Köpfe der Versammelten hinweg auf den Brandherd. Dann plötzlich war es verschwunden. Wenig später bemerkte der Beobachter, dass es behände zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurchschlüpfte und versuchte, zum Kai zu kommen. Lord Kilmarnok ergriff seinen Mantel und lief ins Freie.
Als er sich der Themse näherte, spürte der Suchende bei jedem Schritt die zunehmende Hitze im Gesicht. Die Flammen waren inzwischen auf eines der vorderen Häuser übergesprungen und bemalten die weiße Fassade mit schwarzen Zacken. Schwer atmend erreichte er das Ufer in der Nähe eines schräg liegenden Frachtkahns, dessen Heck halb gesunken zu sein schien. Das Mädchen war nirgends zu sehen.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
Felix, der seinem Herrn gefolgt war, ergriff indigniert dessen Mantel und legte ihn ordentlich zusammen. Lord Kilmarnok ließ währenddessen seinen Blick durch die Menge schweifen. Die Zahl der Zuschauer war noch weiter gestiegen, und rund um die brennende Brücke rangen Menschen aller Altersklassen miteinander. Ein geschickter Maler hätte in dem Durcheinander der vom Feuer beleuchteten Kämpfer prachtvolle Motive für ein Höllenszenario entdeckt. Der Adlige betrachtete das Geschehen, ohne es zu begreifen. Laut, um das Schreien der Menschen zu übertönen, sagte er: »Was ist hier eigentlich los?«
Der Diener rümpfte die Nase und nickte mit dem Kopf Richtung Gasthaus: »Die Bürger der Stadt haben die Brücke angezündet, Sir. Zum zweiten Mal in wenigen Wochen.«
Lord Kilmarnok ignorierte die auffordernden Blicke seines Dieners: »Warum? Warum sollte jemand so töricht sein und die Londonbridge anzünden?«
Felix hustete und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, um den Rauch nicht einatmen zu müssen: »Nein, Sir, sie haben nicht die Londonbridge angezündet, sondern die dahinter liegende Holzbrücke, eine vorübergehende Hilfskonstruktion. Habt Ihr auf der Hinfahrt gar nicht bemerkt, dass wir über eine Behelfsbrücke gefahren sind?« Er zögerte: »Mit Verlaub, Eure Lordschaft, seit Ihr heute Morgen ohne mich die Herberge verlassen habt, wirkt Ihr bedrückt. Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann?«
Der Adlige schüttelte unsicher den Kopf. Sein Kammerdiener wartete eine kurzen Moment, dann fuhr er mit seiner Erklärung fort: »Die große alte Brücke soll doch abgerissen werden. Das ist auch dringend nötig. Im Lauf der Jahre hat man die neunzehn Pfeiler wegen der vielen Brückenhäuser so oft befestigt und verstärkt, dass jetzt fünf Sechstel des Flusses zugebaut sind. Wie Ihr seht, schießt das Wasser mit ungeheurem Druck durch die Bögen. Schiffe passen da schon lange nicht mehr durch, und die kleinen Kähne kämpfen mühsam mit der wilden Strömung. Ich habe jedes Mal Angst, wenn ich über dieses labile Ungetüm fahre. Und ich scheine nicht der Einzige zu sein. Darum hat die Stadt beschlossen, eine neue Brücke mit größeren Bögen zu bauen. Auf der soll es aber keine Häuser mehr geben. Im Augenblick ist die Brücke eine kleine Ortschaft für sich – mit Hunderten von Bewohnern. Sie alle wehren sich gegen den Neubau, demonstrieren gegen den Abriss und boykottieren die Arbeiten, wo sie nur können.«
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