Paula ist vierzehn, und eigentlich finden wir, dass sie noch zu jung ist, um sich festzulegen, vorgezogenes Abi hin oder her. Ärztin wird sie jedenfalls nicht, sie findet Blut ausgesprochen ekelig und bricht bei Dokumentarfilmen regelmäßig in schrille Teenagerschreie aus, wenn dort etwa die Großaufnahme eines Organs zu sehen ist. Thea durfte bestimmt als einzige Praktikantin das Skalpell ansetzen, wahrscheinlich hat sie sogar schon den einen oder anderen Blinddarm entfernt.
Irgendetwas platzt in mir. Mir reicht es jetzt!
„Paula wird Juristin“, sage ich aufs Geratewohl. Du sollst nicht lügen, ich weiß, aber es geht um die Ehre meiner Kinder. „Sie will sich auf Umweltschutz spezialisieren und setzt sich bereits jetzt sehr für die Rettung des Regenwaldes ein.“ Zumindest Letzteres ist wahr, beruhige ich mein Gewissen, beim Umweltprojekt in der Schule war sie wirklich sehr engagiert.
„Außerdem studiert sie nebenbei Chinesisch. China ist ja leider in puncto Umweltschutz nicht sehr offen. Sie will später vor Ort gegen die Luftverschmutzung und die damit verbundene globale Klimaerwärmung kämpfen.“ Das ist komplett gelogen, aber Karin wirkt zumindest ein wenig beeindruckt.
Ich mache weiter: „Und Sebastian trainiert täglich im Hallenbad. Sein Coach sagt, wenn er so weitermacht, ist er in ein paar Jahren reif für Olympia. Kraul und Schmetterling.“
So!
Mein Sohn ist wasserscheu, hat damals mit Ach und Krach das Seepferdchen geschafft, aber das ist mir jetzt egal.
„Wie schön!“ Ihr Lächeln scheint absolut ehrlich, ihre Stimme ist warm, ihre Augen leuchten ermutigend. Sie glaubt mir aufs Wort, und ich schäme mich.
„Ich finde es so wichtig, dass sich Jungen sportlich betätigen! Es gibt zu viele dicke Kinder, die nur vor dem Computer hängen. Sicher, eine gewisse Medienkompetenz ist heutzutage durchaus wichtig. Tim kennt sich gut aus, er hat einige Lernprogramme entwickelt, die sie nun in der Oberstufe anwenden.“
Ich gebe auf.
„Wo ist das Bad?“, frage ich.
„Gleich links neben dem Eingang. Macht es dir etwas aus, wenn ich währenddessen kurz mit Gerd telefoniere? Wir sprechen immer um diese Zeit miteinander, um den Abend abzustimmen.“
„Nein, nein, kein Problem.“
Thea ist inzwischen zur Mondscheinsonate gewechselt und spielt mit geschlossenen Augen und voller Gefühl. Draußen im Garten sehe ich Tim, der Rolli ein Kommando zuruft, der Hund läuft eine saubere Acht, wirft sich in der Luft herum, läuft exakt und millimetergenau die gleiche Acht zurück. Ich bin überzeugt, Rolli wird bald eine Fernsehrolle ergattern, als schlaues Ermittler-Tier im „Tatort“, oder sogar eine eigene Serie bekommen, Lassie war ja auch ein Collie. Obwohl, nein, ich denke, der Hund wird sich lieber humanitär einsetzen und Landminen ausgraben. Sicher bekommt er das Bundesverdienstkreuz.
Ich gehe in den Flur, links ist die Tür zur Gästetoilette, aber eigentlich wollte ich nur etwas Atem schöpfen und – ich gebe es zu – einen heimlichen Blick auf den Rest des Hauses riskieren. Es kann doch nicht sein, dass alles überall perfekt ist. Hier leben schließlich Menschen! Auch Karin muss irgendeine unaufgeräumte Abstellkammer haben, einen Krös-Schrank, bei dem einem, wenn man ihn öffnet, der Staubsauger und der Wäscheständer entgegenfällt – wie bei uns. Ich brauche das jetzt für meine seelische Gesundheit. Ich möchte nicht völlig frustriert nach Hause fahren und in den nächsten Wochen an Mann, Kindern und sogar dem Hund rumnörgeln. Eigentlich finde ich, dass wir eine tolle Familie sind, auch wenn es oft chaotisch ist und mein liebster Gatte zwar abends für uns alle Tiefkühlpommes und Tintenfischringe in den Ofen schiebt, es aber partout nicht schafft, endlich mal seinen Schreibtisch aufzuräumen oder seine dreckigen Socken in den Korb mit Schmutzwäsche zu packen.
Mein Blick wandert durch den makellosen Flur, keine Schuhe liegen herum, keine Mäntel und Jackenberge türmen sich an der Garderobe und drohen, sie durch ihr Gewicht aus der Wand zu reißen, ich sehe kein Staubkorn und kein Hundehaar. Und dabei wirkt es noch nicht einmal klinisch, nein, einladend, warm, eine Schale mit orangenen und grünen Zierkürbissen steht auf einer kleinen, geschmackvollen Vitrine. Direkt daneben ist eine Tür, das muss der Keller sein.
Ich kann nicht widerstehen! Ich höre die Mondscheinsonate, das leise Murmeln Karins am Telefon, das begeisterte Bellen Rollis draußen im Garten, ich habe fünf Minuten, in denen keiner nach mir sehen wird, und die werde ich nutzen. Das bin ich meiner Familie schuldig! Irgendeine Leiche muss doch auch Karin im Keller haben! Ich muss kichern, das ist aufregend, jaja, eine Leiche erwarte ich gar nicht, aber bitte einen Berg schmutziger Wäsche, ein paar lehmverkrustete Stiefel, einen Stapel alter Zeitungen, die noch nicht zum Recyceln gebrachte wurden, Bierflaschen, irgendetwas!
Vorsichtig öffne ich die Tür und husche schnell die Treppe hinunter. Es ist dämmrig, aber durch die kleinen Kellerfenster fällt genügend Licht ein, um sich umzuschauen. Fehlanzeige. Auch der Keller ist topsauber! Es gibt einen Hobbyraum, in dem sämtliche Werkzeuge ordentlich an Haken an der Wand hängen, im Fahrradkeller stehen blitzende Fahrräder, genau vier – kein Schrott und keine kaputten Kinderfahrräder und Roller zwischen den Fahrrädern, wie bei uns. Es gibt sogar einen Partykeller und einen Wäschekeller mit einer Mangel, alles riecht frisch und sauber. Ich gehe hinein, wow, so einen Keller hätte ich auch gern. Wir haben die Waschmaschine im Badezimmer und teilen uns mit den anderen Mietern einen Trockenspeicher. Ich will gerade wieder hinausschlüpfen, da sehe ich in der hintersten Ecke, noch hinter dem Wäscheständer, eine Tür aus schwerem Eisen.
Wenn schon, denn schon. Ich schiebe mich an dem Ständer vorbei und drücke die Klinke, aber es ist abgeschlossen. Wahrscheinlich der Heizungskeller, nicht so interessant. Es wird sowieso Zeit, dass ich zurück ins Wohnzimmer gehe, es wäre mir ja doch peinlich, beim Schnüffeln entdeckt zu werden. Ich drehe mich zum Ausgang, da höre ich etwas.
„Hallo?“ Eine leise Stimme, vorsichtig, zaghaft. „Hallo, ist da jemand?“
Die Stimme kommt aus dem verschlossenen Kellerraum. Ich erkenne sie, aber das kann eigentlich nicht sein. Da müsste es ja einen separaten Zugang zu diesem Raum hinter der Tür geben, Karin ist sicherlich nicht an mir vorbeigeschlichen. Und warum sollte sie sich dort einschließen? Außerdem telefoniert sie doch, ich hab’s gerade noch gehört.
„Mama“, eine andere Stimme, „Mama, da ist niemand. Gib es auf, es wird keiner kommen.“
Das ist Thea, eindeutig.
Ich räuspere mich.
„Was ist hier los? Warum seid ihr plötzlich hier unten?“ Meine Stimme krächzt, es ist alles irgendwie absurd.
Einen Moment Schweigen, ich spüre geradezu die Spannung hinter der Tür.
„Wer sind Sie?“
„Na wer schon, Doris natürlich.“
„Doris?“ Es klingt ungläubig „Das kann doch nicht sein! Doris Lütke?“
Das wird ja immer besser. Das heißt nein, es wird immer gruseliger! Ich bin völlig perplex, und gleichzeitig spüre ich, dass mir kalt wird. Meine Hände und Füße fühlen sich taub an, mein Herz klopft wild, am liebsten würde ich jetzt einfach wegrennen, aber ich kann nicht. Was ist hier los, um Gottes willen?
„Doris!“ Wieder Karins Stimme, wild, hysterisch! „Hol uns hier raus! Da muss irgendwo ein Schlüssel sein, bitte, beeil dich!“
„Mama, sei ruhig, sie hören uns noch!“ Auch Thea klingt hysterisch.
„Wer ist die Frau, Mama?“ Tims Stimme, ganz leise, verwirrt.
„Eine alte Freundin. Mach schnell, Doris, BITTE!“ Karin unterdrückt krampfhaft ihr Schluchzen, jetzt weint auch Thea.
Ich verstehe gar nichts, aber ich muss helfen, das ist ein Notfall! Auch wenn ich nicht weiß, was für einer. Sind sie durch eine Falltür vom Wohnzimmer direkt in diesen Keller gestürzt? Keine Zeit, nachzudenken, später, erst mal hol ich sie hier raus. Ich schaue mich fieberhaft in dem dämmrigen Wäschekeller um. Er wirkt so aufgeräumt, so sauber, so, wie ein Wäschekeller in der Werbung auszusehen hat, gleich wird die schmunzelnde Mutti das dreckige T-Shirt ihres Sohnemannes einweichen, gleich wird sie sich begeistert über Waschkraft und Aprilfrische äußern, nein, dieser geweißte Keller mit seiner topmodernen Waschmaschine, dem Trockner, dem Becken für die Handwäsche, all das passt nicht zu dem Grauen, das mich gepackt hat, nicht zu dem verzweifelten Weinen hinter der Tür.
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