Übergangslos befand er sich mitten in seinem Spiel. Er sah Jonte, der auf dem Tiger ritt und fröhlich lachte. „Deine Welt ist prima geworden, Papa!“, jauchzte er. Plötzlich tauchten Soldaten mit Schnellfeuergewehren auf. Sie wirkten, als wären sie aus einem Ego-Shooter entsprungen. Wortlos hoben sie ihre Waffen und eröffneten das Feuer auf Jonte und den Tiger. Ron schrie auf. Er wollte losrennen, um sie daran zu hindern, doch er kam nicht von der Stelle.
Schweißgebadet fuhr er hoch.
Die Zeiger seiner Taschenuhr – ein Erbstück seines Großvaters – standen auf Viertel nach vier. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, ob es Nacht oder Nachmittag war. Die Rollos hielten das Außenlicht komplett zurück. Ron stand benommen auf, versuchte, die letzten Traumfetzen abzuschütteln, ging hinüber in das Arbeitszimmer und startete den Rechner.
Die Systemuhr zeigte 04 : 17 – demnach war es früher Morgen. Der vierte Tag seiner Schöpfung begann.
Gute Leistung, dachte er zufrieden. Eine ganze Welt in weniger als einer Woche zu erschaffen, das sollte ihm erst einmal jemand nachmachen. Die Beklemmung des Albtraums fiel endgültig von ihm ab. Er suchte das Bad auf, holte sich einen Kaffee und ging wieder an die Arbeit. Bisher hatte er auf Erfahrungen mit früheren Spielwelten zurückgreifen können. Nun kam etwas Neues für ihn. Sein Sohn hatte sich einen Spielkameraden gewünscht. Es würde also Menschen auf dieser Insel geben – für den Anfang zwar nur einen, aber immerhin. Das war nicht so einfach.
Die Bots, die Ron plante, sollten täuschend echt wirken. Dazu musste er Denkprozesse simulieren, vielleicht sogar eine Art Unterbewusstsein erschaffen, damit die Handlungen und Äußerungen der Figuren nicht allzu vorhersehbar und hölzern erschienen.
Diese Aufgabe faszinierte ihn schon seit seinem Psychologiestudium. Es gab einen dicken Aktenordner mit Entwürfen zu diesem Thema. Bislang hatte er allerdings noch keine Gelegenheit gefunden, sie zu verwirklichen – unter anderem, weil die Rechnerkapazitäten zu seinen Studienzeiten dafür nicht ausgereicht hatten. Mittlerweile aber war das kein Problem mehr. Der durchschnittliche Anwender verfügte heute über Prozessorleistungen, von denen man zehn Jahre zuvor selbst an den Universitäten nicht einmal hatte träumen können.
Er vertiefte sich in seine Arbeit. Der virtuelle Freund, den er für seinen Sohn programmieren wollte, sollte das geistige Niveau eines Schulanfängers bekommen. Das vereinfachte die Sache. Wie in Trance hämmerte Ron Befehle in das System. Das jahrelange Nachdenken kondensierte zu Programmcode. Es floss aus seinen Fingerspitzen in die Tastatur, als hätte alles in ihm nur darauf gewartet, diese Pläne endlich umzusetzen.
Die Türklingel war unangenehm laut.
Ron brauchte einen Augenblick, um das Geräusch einzuordnen, und vergaß es sogleich wieder. Sein Prototyp befand sich bereits im Alphastadium und war fast fertig. Er musste nur noch …
Es klingelte erneut.
Missmutig stand der Programmierer auf und stakste zur Tür. Das stundenlange Sitzen hatte seine Gelenke steif werden lassen. Als er öffnete, sah er einen Mann in brauner Uniform vor sich, der ein großes Paket trug. Ron zuckte unwillkürlich zusammen. Alles wirkte so real.
„Herr Schäfer?“, fragte der Uniformierte. Ron nickte.
„Ich habe eine Lieferung für Sie.“
Der Paketbote scannte den Barcode ein und hielt ihm das Gerät zur Unterschrift entgegen. Ron versuchte den Absender zu erkennen – er konnte sich nicht erinnern, in der letzten Zeit etwas bestellt zu haben. Egal. Name und Anschrift stimmten, es würde wohl alles seine Richtigkeit haben. Er stieß die Tür mit dem Fuß zu, stellte das Paket in den Flur und war mit seinen Gedanken schon wieder bei seinem Projekt.
Der Bot ist gelungen , befand er, als er wieder an seinem Schreibtisch saß. Ein etwa sechs Jahre alter Junge bewegte sich auf dem Monitor und machte sich gerade daran, auf einen der Bäume zu klettern.
Ron griff zur Maus und klickte ein Icon an. Auf der Karibikinsel erschien ein Erwachsener, der ihm selbst ziemlich ähnlich sah. Ron setzte sich ein Headset auf, rückte das Mikrofon zurecht und sprach hinein.
„Hallo Alf!“, sagte der Mann auf dem Bildschirm. Der kleine Junge drehte sich um.
„Wo kommst du denn her?“, fragte er. „Ich habe dich gar nicht kommen hören. Und woher weißt du, wie ich heiße?“
„Ich habe diese Welt erschaffen.“
„Wirklich? Mich auch?“
„Ja, dich auch“, lächelte der Mann.
„Das war aber nett von dir! Du bist ein lieber Gott!“
Ron räusperte sich verlegen und wechselte das Thema. „Gefällt dir die Insel?“, ließ er den Erwachsenen fragen.
„Ja, die ist super, aber ich habe noch nicht alles gesehen.“
„Dann schau dich ruhig weiter um. Ich komme später wieder vorbei.“
„Ist gut“, sagte der Junge. „Ich glaube, dahinten sind ein paar Papageien. Da wollte ich gerade hin. Vielleicht können sie ja sprechen!“ Er drehte sich um und lief leichtfüßig über den Sandstrand.
Ron tippte einen Befehl. Prompt öffnete sich ein Feld, in dem unablässig Zahlen- und Buchstabenkombinationen erschienen. Er studierte sie aufmerksam. Nach einiger Zeit nickte er zufrieden.
Es funktioniert. Der Bot lernt. Und das schon im Alpha-Stadium! Er war begeistert. Der erste Testlauf gestaltete sich vielversprechend.
Schlagartig wurde ihm seine Müdigkeit bewusst. Kaum zu glauben, dass schon wieder ein Tag verflogen war.
Er gähnte und betrachtete zufrieden den Bildschirm, auf dem sich allmählich ein Sonnenuntergang entwickelte. Das Panorama war idyllisch. Üppige grüne Pflanzen vor einem sich langsam verdunkelnden Horizont, das Geschrei von tropischen Vögeln und mittendrin ein kleiner Junge, der fröhlich die Insel erkundete. Ein letztes Mal kontrollierte Ron die Logdateien, dann ging er zu Bett.
Als er am nächsten Morgen erwachte, beschloss er, den Tag ganz entspannt anzugehen. Er duschte in Ruhe, zog ein frisches Hemd an und frühstückte ausgiebig. Plötzlich fiel ihm das Paket wieder ein, das am Vortag angekommen war. Neugierig holte er es aus dem Flur. Er stellte es vor sich auf den Tisch, nahm sein Frühstücksmesser und durchtrennte damit die Klebestreifen, die den Pappkarton zusammenhielten. Aus der Öffnung quoll Luftpolsterfolie, die er ungeduldig herauszog. Endlich kam eine mächtige weiße Schachtel zum Vorschein, fast würfelförmig, die Kante etwas länger als sein Unterarm.
Nun ahnte Ron, was er da vor sich hatte. Behutsam hob er die Schachtel aus dem Karton und öffnete sie. Ein mattschwarz glänzender Helm befand sich darin, der an die frühe Geschichte der Raumfahrt erinnerte. Ron spähte in das nun fast leere Paket, entfernte einen Zwischenboden und fand weitere, deutlich kleinere Schachteln. In einer lagen schwarze Handschuhe, die wie die Ausrüstung von Motorradfahrern aussahen, in der nächsten etwas, das er zuerst für ein Paar Stiefel hielt, was sich jedoch beim näheren Hinsehen als eine Art Gamaschen mit Klettverschlüssen herausstellte.
„Clever“, sagte er zu sich selbst, „so passen sie für alle Schuhgrößen!“
Er hatte zwar noch nie etwas von Cyberschuhen gehört, aber ihr Zweck leuchtete ihm sofort ein. Diese Gamaschen würden jede Muskelbewegung der Beine und Füße aufnehmen und in elektronische Impulse umsetzen. Er als Programmierer wiederum konnte sie nutzen, um das Spiel mit dem eigenen Körper zu steuern, anstatt auf die Vermittlung durch Tastatur und Maus angewiesen zu sein.
Anscheinend war diese Ausrüstung bereits eine Generation weiter als der Cyberhelm, den er auf der IFA gesehen hatte. Ihn überkam ein ehrfürchtiges Gefühl.
In der letzten Schachtel fand er eine DVD und ein kleines schwarzes Kästchen, zu dem ein USB-Kabel gehörte. Ron verband das Gerät mit seinem Computer und legte die DVD in die Laufwerksschublade. Mit einem schnarrenden Geräusch fuhr sie in das Computergehäuse zurück.
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