Dieser Begriff der Repräsentation – die Analyse der Repräsentation objektiver Klasseninhalte einander entgegengesetzter Kräfte und der Mittel und Bedingungen des politischen Kampfes, eines Kampfes mit eigenen Erscheinungsformen und eigener, spezifischer Wirksamkeit –, erlaubte es Marx, eine verblüffende Antwort auf die zentrale Frage des Achtzehnten Brumaire zu geben. Wen repräsentiert Napoleon, wer wird von dieser außergewöhnlichen Form, den Kampf zu beenden (mittels Staatsstreich) repräsentiert? Wir wissen, zu welcher Erklärung sich Marx entschloss: Napoleon »vertritt« den Parzellenbauern – den konservativen, nicht den revolutionären Bauern, den Bauern, der nicht über den Status quo hinausgehen, sondern ihn befestigen will. Wir können hier die Art, wie diese »Lösung« konstruiert wird, nur grob umreißen (vgl. 198ff.). Sie umfasst, erstens, eine Untersuchung der spezifischen bäuerlichen Produktionsweise, die auf der kleinen Parzelle gründet, und der Form des gesellschaftlichen Lebens, das aus ihr hervorgeht: die Isolierung voneinander, die erzwungene Selbstgenügsamkeit, die Struktur der Dorfgemeinschaft, die fehlende Entwicklungsvielfalt, die Armut der gesellschaftlichen Beziehungen. Marx verfolgt die entscheidende Transformation der ökonomischen Rolle der Bauernschaft – vom halbhörigen Bauern zum freien Grundeigentümer – unter der Regentschaft Napoleon I. und ihre unmittelbaren Folgen: die Zersplitterung des bäuerlichen Eigentums, den Durchbruch von freier Konkurrenz und Marktwirtschaft, die Rolle von Wucherern, Hypothek und Schulden in diesem zurückgebliebenen, traditionellen Sektor. Marx zeigt hier detailliert die verheerenden Auswirkungen der durch den kapitalistischen Einbruch auf dem Land hervorgebrachten Desorganisierung der bäuerlichen Gesellschaft. Dieser Vorgang bereitete den Boden für den zunehmenden Antagonismus zwischen Bauernschaft und Bourgeoisie – ein Antagonismus, der Napoleon zu seiner »Unabhängigkeit« verhalf. Die Parzellenbauern werden nicht nur in ein Meer von Schulden gestürzt, die versteckte Steuerlast verbindet ihre Verelendung schicksalhaft mit den erstarkten Armen der Regierung und dem staatlichen Exekutivapparat.
Im Weiteren stellt Marx auf meisterhafte Weise dar, wie die ideologischen Anschauungen der Bauernschaft in der Ideologie von Louis Napoleon – in den »idées napoléoniennes« – weniger eine Entsprechung als einen ergänzenden Widerhall finden. Ihrem objektiven Gehalt nach sind die »idées napoléoniennes« nichts als »Ideen der unentwickelten, jugendfrischen Parzelle« (203). Es gibt eine »Homologie der Formen« zwischen ihnen. Bedeutet dies nun, dass Napoleons Lösung letztendlich nicht der sich entwickelnden bürgerlichen Produktionsweise in Frankreich entspricht, kein Rettungsanker der Bourgeoisie ist? Tatsache ist, so Marx, dass Napoleon nicht mehr einen bestimmten Teil der Bourgeoisie vertreten kann, denn er ist nur durch die sukzessive Niederlage oder den sukzessiven Rücktritt der einzelnen Hauptfraktionen der Bourgeoisie an die Macht gekommen. Diese fortschreitende Liquidierung bietet nur eine unsichere und widersprüchliche Grandlage für einen Staatsstreich. Das führt Napoleon dazu, seine politischen Ansprüche am Ende auf die Klasse der Parzellenbauern zu stützen, die »sich nicht vertreten (können), sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muss zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierangsgewalt, die sie vor den anderen Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt« (198f.). An genau dieser Stelle aber – an der eine ganze Klassenfraktion politisch nur durch die politische Ausnahmeform einer Ein-Mann-Diktatur in Erscheinung tritt – vollzieht Marx eine letzte ironische Wendung. Denn durch Napoleon gerät die Parzellenbauernschaft in direkte Abhängigkeit von der Exekutivgewalt – vom Staat.
Durch diesen Reifeprozess der Staatsmacht, die Schaffung einer aufgeblähten aber »unabhängigen« Staatsmaschinerie, die durch das Napoleonische Regime perfektioniert wird, und gestützt auf die widersprüchliche Basis seiner »Unabhängigkeit« kann Napoleon schließlich nicht dieser oder jener Fraktion der Bourgeoisie, sondern der Entwicklung der kapitalistischen Verhältnisse in Frankreich überhaupt dienen.
»Aber das materielle Interesse der französischen Bourgeoisie ist gerade auf das innigste mit der Erhaltung jener breiten und vielverzweigten Staatsmaschinerie verwoben. Hier bringt sie ihre überschüssige Bevölkerung unter und ergänzt in der Form von Staatsgehältern, was sie nicht in der Form von Profiten, Zinsen, Renten und Honoraren einstecken kann. Andererseits zwang ihr politisches Interesse sie, die Repression, also die Mittel und das Personal der Staatsgewalt, täglich zu vermehren (…). So war die französische Bourgeoisie durch ihre Klassenstellung gezwungen, einerseits die Lebensbedingungen einer jeden, also auch ihrer eignen parlamentarischen Gewalt zu vernichten, andererseits die ihr feindliche Exekutivgewalt unwiderstehlich zu machen.« (150f.)
Das ist langfristig ihre »Leistung«, und sie wird durch die »Krise« von 1851, durch Umschwünge und Umwege, durch Fortschritte und Rückschritte hindurch zur Reife gebracht und vollendet, zugunsten der sich entfaltenden kapitalistischen Kräfte der französischen Gesellschaft. Das ist die objektive Leistung der Revolution, die sie »auf der Reise durch das Fegefeuer« vollbringt (196).
Der politische Klassenkampf hat also seine eigene Wirksamkeit, seine eigenen Formen und Existenzbedingungen, sein eigenes Moment, sein Tempo und seine Richtung, seine eigenen inneren Widersprüche, seine »eigentümlichen« Ergebnisse und Resultate. Auch wenn alles in letzter Instanz durch den Entwicklungsstand der materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist, durch die sich die vorherrschende Produktionsweise reproduziert (wie auch die untergeordneten oder überlebenden Produktionsweisen, die in jeder konkreten Gesellschaft mit der in ihr vorherrschenden Produktionsweise verbunden existieren), können nur sehr wenige der tatsächlichen Verschiebungen in den politischen Beziehungen der Klassenkräfte dadurch entziffert werden, dass man sie auf die abstrakten Bedingungen des »Hauptwiderspruchs« reduziert. Das Politische ist mit der Ebene des Ökonomischen verknüpft; und beide sind – um die Unterscheidung ganz klar zu machen – durch die mit der »Produktionsweise« verbundenen Kräfte und Verhältnisse überdeterminiert (grundlegend durch sie konstituiert und in den möglichen Varianten und Ergebnissen durch sie begrenzt).
Sie als etwas Unverbundenes zu betrachten, als etwas, was in keiner Weise miteinander »korrespondiert«, hieße das oberste Prinzip des historischen Materialismus aufzugeben: das Prinzip der Gesellschaftsformation als »komplexe Einheit«, als »Ensemble der Verhältnisse«. Zu dieser Artikulation aber kommt es nur über eine Reihe von Verschiebungen und Desartikulationen. Zwischen die Klassen, die in den ökonomischen Produktionsverhältnissen konstituiert werden – sei es in ihrer »reinen« Form (da, wo die Produktionsweise als ein analytischer Rahmen fungiert) oder ihrer konkret-historischen Form (wo sie in komplexen Formen auftreten, verbunden mit den Formationen früherer Produktionsweisen), tritt eine Reihe von Formen, Prozessen, Bedingungen und Voraussetzungen (die mit einem spezifischen Satz von nicht reduktiven Begriffen fassbar werden), die die Ebene des Politischen in einer Gesellschaftsformation »ausfüllen«. Die Repräsentation des »Ökonomischen« auf der Ebene des »Politischen« läuft über diese Formen und Prozesse. Ohne diesen Prozess, diesen komplexen Zusammenhang von Praxen des politischen Klassenkampfes gäbe es überhaupt keine »politische« Ebene. Und sobald der Klassenkampf auf der Bühne des politischen Klassenkampfes dem Prozess der »Repräsentation« unterworfen ist, verewigt sich diese Verbindung: Sie gehorcht nicht nur den auf sie wirkenden Determinationen, sondern auch einer eigenen, inneren Dynamik; sie hält sich an ihre eigenen, spezifischen Existenzbedingungen. Sie wird unumkehrbar. Diese Transformation ist es, die die notwendige Ebene des Politischen produziert und stützt. In dem Moment, in dem die Klassenkräfte als politische Klassenkräfte auftreten, haben sie politische Konsequenzen; sie bringen »Lösungen« hervor – Resultate, Ergebnisse, Konsequenzen –, die nicht in die Ausgangsbedingungen rückübersetzt werden können.
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