„Oh, wenn Ihre Mutter unseren Bund nicht billigen würde...!“ sagte ich zögernd.
Lillian lehnte sich etwas weniger leicht auf meinen Arm.
„Wenn ich das denken würde“, antwortete diese mit leichtem Erröten, „würde ich mich so an Ihrer Seite befinden?“
Wir bogen die dunklen Zweige der Zeder zurück. Lilian ließ mich los, küsste Mrs. Ashleigh auf die Wange, nahm neben ihr auf dem Rasen Platz und legte ihr Haupt in den mütterlichen Schoss. Ich betrachtete die Königin des Hill, deren scharfes Auge über mich hinwegschoss. Auf ihrem Antlitz schien sich für einen Moment ein Ausdruck des Schmerzes oder der Missbilligung abzuzeichnen; doch das war schnell vorüber. Zurück blieb eine gewisse Ironie, eine Art Triumph oder eine Beglückwünschung in dem halben Lächeln, mit welchem sie ihren Platz verließ und in dem Ton, mit welchem sie an mir vorbei gleitend zuflüsterte: „So, damit wäre die Angelegenheit also geregelt.“
Mrs. Ashleigh sah mich wohlwollend an; dann hob sie das Gesicht ihrer Tochter aus ihrem Schoss und flüsterte: „Lilian.“ Lilians Lippen bewegten sich, aber ich vernahm ihre Antwort nicht. Die Mutter hatte sie verstanden. Sie nahm Lilians Hand, legte sie einfach in die meine und sagte:
„Wie sie wählt, wähle auch ich; wen sie liebt, der ist auch mir teuer.“
Von jenem Abend an bis zu dem Tag, an welchem Mrs. Ashleigh und Lilian den gefürchteten Besuch antraten, verbrachte ich jede Minute der Zeit, die mir meine Patientenbesuche frei ließen, in ihrem Hause; und während dieser wenigen Tage, der glücklichsten, die ich je erlebt hatte, war es mir, als hätten mich Jahre nicht mit Lilians außerordentlichem Wesen vertrauter machen können; ihr reiner Sinn erfüllte mich mit der tiefsten Ehrfurcht und ihre Anmut verstrickte mich immer tiefer in die Bande der Liebe. Ich konnte nur einen einzigen Fehler an ihr entdecken, machte mir aber selbst Vorwürfe darüber, dass er mir wie ein Mangel vorkam. Wir sehen viele, welche die untergeordneten Pflichten des Lebens vernachlässigen und denen eine wachsame, überlegende Fürsorge für Andere fehlt; gewöhnlich ist die Ursache hiervon Leichtsinn oder Egoismus. Allerdings konnte man keine dieser Eigenschaften Lilian zuschreiben; doch lag in den täglichen Bagatellen etwas von dieser Nachlässigkeit, etwas von diesem Mangel an Sorgfalt und Vorbedacht. Sie liebte ihre Mutter aufs Zärtlichste; aber doch fiel es ihr nie ein, ihr bei den kleinen Haushaltsgeschäften zur Hand zu gehen, auf die Ashleigh so viel Wert legte. Sie besaß ein Herz voll Zartgefühl und Mitleid für die Armen und Leidenden; dennoch gab es auf dem Berg manche junge Dame, die ihre Wohltätigkeit aktiver gestaltete, im Besuch kranker Armer zum Beispiel oder durch Unterweisung ihrer Kinder in den Kinderschulen.
Ich war der Überzeugung, dass ihre Liebe zu mir wahr und aufrichtig sei; sie war ganz offensichtlich frei von allem Ehrgeiz, und ohne Zweifel wäre sie fähig gewesen, sich zufrieden und ohne Widerspruch in Alles zu fügen, was die Welt Opfer und Entbehrung nennt – dennoch traute ich ihr nicht zu, dass sie Anteil an der Mühsal des täglichen Lebens nehmen werde. Ich hätte auf sie nie den häuslichen und so bezeichnenden Ausdruck „Gehilfin“ anwenden mögen. Selbst während ich dies schreibe, mache ich mir Vorwürfe, wenn ich diesen Mangel (sofern es ein Mangel ist) in der – wie soll ich sagen? – praktischen Routine unseres gemeinsamen, positiven, menschlichen Dasein notiere. Und ohne Zweifel war dies der Grund, der Mrs. Poyntz zu dem harten Urteil über meine Auserwählte führte. Aber der abkühlende Schatten, den ihr bezauberndes Wesens warf, war nicht der Reflex einer trägen, unliebenswürdigen Selbstsucht, sondern lediglich die Folge jener Selbstschau, welche durch ihre Träumerei genährt wurde. Ich enthielt mich vorsichtig jeder Anspielung auf die visionären Trugbilder, die sie mir als wirkliche Eindrücke ihres Geistes, wenn nicht ihrer Sinne, anvertraut hatte. Alles, was meiner Ansicht nach nur den Hauch des Aberglaubens trug, war mir unangenehm; jede Nachsicht in Phantasien, die nicht in dem klar definierten und ausgetretenen Pfad einer gesunden Einbildungskraft lagen, wirkte noch stärker auf mich – es alarmierte mich. Ich ermutigte sie mit keiner Silbe in ihren Überzeugungen, von denen ich mir sagen musste, es sei noch zu früh, ihnen mit vernünftigen Gründen entgegenzutreten, in jedem Fall aber grausam, sie lächerlich zu machen. Ich war überzeugt davon, dass die Nebel, die ihre natürliche Intelligenz umgaben und einer einsamen, dem Brüten anheim gegebenen Kindheit entsprungen waren, sich von selbst im hellen Tageslicht des ehelichen Lebens legen würden. Es schien sie schmerzlich zu berühren, wenn sie sah, mit welcher Entschiedenheit ich einem Thema aus dem Weg ging, der ihren Gedanken so wichtig war. Sie machte ein oder zweimal einen schüchternen Versuch, darauf zurückzukommen, aber meine ernsten Blicke genügten, ihr Einhalt zu gebieten. Ein- oder zweimal kam es bei solchen Gelegenheiten vor, dass sie sich von mir abwandte und mich verließ; doch kehrte sie bald wieder zurück. Das sanfte Herz konnte keinen Schatten zwischen sich und dem Gegenstand seiner Liebe ertragen.
Laut Übereinkunft sollte unsere Verlobung zunächst ein Geheimnis zwischen uns und Mrs. Poyntz bleiben und erst nach der Rückkehr von Mrs. Ashleigh und Lilian, die in einigen Wochen stattfinden sollte, bekanntgemacht werden. Unsere Heirat war für den Herbst geplant, eine Zeit, in welcher der normalerweise niedrige Krankenstand mir kurze Ferien gestattete.
So kam der Abschied – ein Abschied, wie er zwischen Liebenden stattfindet. Ich fühlte nichts von jenen eifersüchtigen Befürchtungen, die mich vor unserer Verlobung schon bei dem Gedanken an eine Trennung zittern gemacht und vor meiner Einbildungskraft unwiderstehliche Nebenbuhler heraufbeschworen hatten. Dennoch sah ich sie nicht ohne schwere, düstere Gedanken von dannen ziehen. Die Erde hatte ihre Herrlichkeit, das Leben seinen Segen verloren.
Während der vielbeschäftigten Jahre meiner Berufslaufbahn hatte ich immer noch Musse erübrigen können, um wissenschaftliche Abhandlungen zu schreiben, die mehr oder weniger Aufsehen erregten. Eine davon unter dem Titel „Das Lebensprinzip, seine Verschwendung und seine Versorgung“ fand auch unter dem nicht ärztlichen Publikum einen ausgedehnten Leserkreis. Die genannte Schrift enthielt die Ergebnisse gewisser, damals in der Chemie noch neuer Versuche, aus denen ich für die Ernährung des menschlichen Organismus Folgerungen nach denselben Grundsätzen zog, auf die Liebig die Kräftigung eines ausgelaugten Bodens baut; das heißt, ich schlug vor, dem Körper als wesentliche Elemente der Ernährung die Stoffe wieder zu geben, die er durch seine Tätigkeit verbraucht oder durch Zufall verloren hat – mit anderen Worten, ich forderte, diesem die Bestandteile der Ernährung zuzuführen, deren der individuelle Organismus konstitutionell bedarf und eine Neutralisierung und Ausgleich des im Übermaß Vorhandenen – eine Theorie, auf welche sich in neuester Zeit einige vielberufene Ärzte mit ausgezeichnetem Erfolg gestützt haben. Aber ich legte auf diese Arbeiten, die flüchtig waren und nur Andeutungen, keine durchgearbeiteten Sätze enthielten, keinen Wert. Während der letzten zwei Jahre beschäftigte mich ein Werk von viel größerer Tragweite, ein von größerem Ehrgeiz eingegebenes Unternehmen, von dem ich mir den nachhaltigen Ruf eines streng wissenschaftlichen, nicht auf Vorgänger bauenden Physiologen versprach. Es handelte sich um die Erforschung des organischen Lebens, basierend auf den Arbeiten des Berliners Johannes Müller, mit denen jener die Wissenschaften unseres Zeitalters bereichert hatte – leider nur ein schwaches Trachten, die Gedankentiefe und Gelehrsamkeit eines großes Geistes zu erreichen, welcher die Spekulation über den Gang der gewöhnlichen Reflexion erhaben macht. Damals wurde ich freilich getragen von der Wichtigkeit meines Themas und bewunderte meine Leistung, weil ich die Arbeit voller Hingabe erledigte. Während der Aufregung des letzten Monats war dieses Projekt völlig bei Seite gelegt worden; nun aber, da Lilian fort war, nahm ich es allen Ernstes als einzige Tätigkeit wieder auf, die Reiz und Macht genug besaß, mich den Verlust, die schmerzliche Leere, weniger empfinden zu lassen.
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