Zunehmende Vereisung durch Frost, Wind und Seerauch
„Wir werden jetzt hieven und danach mit der Enteisung beginnen. Die Situation ist bedrohlich“, sagte der Kapitän zum Ersten Steuermann.
Das Fanggeschirr wurde gehievt. Die Fangmenge war diesmal gering und wurde durch zwei Decksleute bearbeitet. Alle anderen Decksleute, auch die wachfreien, wurden mit der Enteisung beauftragt.
Kapitän Lukas fuhr das Schiff in Richtung der nach Süden treibenden Eisfelder. Im Treibeisfeld gab es keine überkommende See, keine Gischt und kein Spritzwasser.
Vereiste Ankereinrichtung
Der Zweite Steuermann überwachte die Enteisung. Mit großen Hämmern, Brechstangen, Feuerwehrbeilen, Äxten und Kusenbrechen wurde das Eis abgeschlagen und gleich außenbords geworfen oder geschaufelt, um das Schiff zu entlasten.
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„Wir haben es hier mit Spritzwasservereisung und Süßwasservereisung zu tun“, meinte der Erste, der sich auf der Brücke aufhielt und den Kapitän zum Mittagessen ablösen wollte.
„Die Spritzwasservereisung, der ‚Weiße Frost‘, entsteht, wenn die Lufttemperatur niedriger als die Temperatur des Seewassers ist“, sagte der Kapitän und zeigte auf das Außenthermometer in der Brückennock.
„Die Vereisung, die sich jetzt weiter bildet, ist nicht nur von der Luft- und Wassertemperatur, sondern auch von der Windstärke, vom Seegang und vom Verhalten des Schiffes in der See abhängig“, ergänzte der Funker die Einschätzung des Kapitäns.
Spritzwasservereisung
„Eine Süßwasservereisung, der ‚Schwarze Frost‘, entsteht bei Lufttemperaturen unter dem Gefrierpunkt durch Seerauch. Die örtlichen Seerauchfelder ermöglichen die Eisbildung und es entsteht eine sehr harte feste Eisschicht, die sich nur schwer abschlagen lässt“, sagte der auf diesem Gebiet erfahrene Kapitän.
„An vielen Stellen lässt sich das Eis nicht abschlagen. Es ist eisenhart und stellenweise sehr dick“, berichtete der Zweite, der sich auf Anweisung des Kapitäns im Brückenraum meldete. Das Schiff fuhr mit „Langsamer Fahrt“. Auf einmal trat eine feste Krängung nach Steuerbord ein. Der Krängungsmesser zeigte fünfzehn Grad. Der örtlich auftretende Seerauch führte weiter zur gefährlichen Vereisung. „Kapitän, wir schaffen es mit unseren Kräften nicht, das Schiff wirksam zu enteisen. Das zeigt auch die zunehmende Krängung“, sagte der Zweite.
Schwarzer Frost
Die Gefahr des Kenterns nahm zu. Das glatte Deck und die Schräglage des Schiffes erschwerten die Enteisung. Die Männer rutschten aus dem Stand, ohne die Einwirkung von Schiffsbewegungen, aus.
Lukas nahm die Hinweise ernst. Er setzte sich über Funk mit den Kapitänen der Trawler der eigenen Reederei, die sich nördlich auf der Bananenbank befanden, in Verbindung und bat um Hilfe. Die Schiffe auf der Bananenbank hatten keine so starke Vereisung – die meteorologischen Bedingungen waren dort günstiger.
Am Treibeisgürtel, nordwestlich der Fyllasbank, traf die „Beatrix“ auf die zur Hilfeleistung bereiten Trawler. Auf den schiffseigenen Schlauchbooten setzten die Decksleute, in wetterfeste Bekleidung und Schwimmwesten, mit ihrem Enteisungswerkzeugen auf die „Beatrix“ über. Alle hatten sich freiwillig bereit erklärt, den Männern des stark vereisten Schiffes zu helfen.
Planmäßig begannen sie auf den Decks, an den Aufbauten und Masten mit den Enteisungsarbeiten. Die Einnahme der Mahlzeiten erfolgte gruppenweise. Zwischendurch versorgte der Koch alle mit warmen Getränken. Die Arbeiten waren mühevoll und kräftezehrend, da das Eis sich nur langsam beseitigen ließ. An Schlaf und Ausruhen war nicht zu denken. Jeder wusste um die Gefahr des Kenterns und die Folgen für die persönliche Gesundheit und das eigene Leben. Die Angst, im kalten Wasser vor Westgrönland zu ertrinken, motivierte alle bis zur Entkräftung zu enteisen. Der Untergang der englischen Trawler durch den „Schwarzen Frost“ vor Ostgrönland – alle Decksleute hatten davon gehört – war eine weitere Motivation, alle körperlichen Kräfte zu mobilisieren. Nach zwölf Stunden ununterbrochener Enteisungsarbeiten verringerte sich die Krängung des Schiffes, die sich bei der Ankunft im Bereich des Treibeisgürtels um weitere zehn Grad vergrößert hatte.
Die Enteisung der Reling, des Schanzkleides, des Wetterschutzdaches und der Masten trug wesentlich zur Verringerung der Eislast des Schiffes bei. Die Männer waren übermüdet. So sehnten sich die meisten nach einer warmen Koje und einer Mütze voll Schlaf. Kapitän Lukas ließ aber keine Schwäche zu.
„Es muss weiter enteist werden, bis das Schiff wieder gerade liegt“, war die Weisung des Kapitäns an alle Decksleute, die durch das Maschinenpersonal unterstützt wurden.
Decksleute enteisen die Reling auf dem Vorschiff
Nach weiteren sechs Stunden trat das ein, auf das alle gehofft hatten. Die Krängung ging weiter zurück. Kapitän Lukas bat die Kapitäne der Hilfe leistenden Trawler ihre Männer abzuholen. Die meteorologischen Bedingungen hatten sich wesentlich verbessert. Örtlicher Seerauch war nicht mehr vorhanden. Der Wind hatte nachgelassen und kam nur schwach aus nördlicher Richtung. Die Gefahr einer neuerlichen Vereisung durch den „Weißen und Schwarzen Frost“ war vorbei.
Die Decksleute der anderen Trawler wurden total übermüdet und körperlich geschwächt, übergesetzt. Dankbar wurden sie von den an Deck stehenden Männern der „Beatrix“ verabschiedet.
Beatrix
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Jetzt gingen alle wieder ihren regulären Arbeiten nach. Kapitän Lukas suchte mit dem Echographen und der Fischlupe nach weiteren Fischanzeigen im Nordwesten der Fyllasbank, bevor er das Fanggeschirr wieder aussetzen ließ. Er ortete Kabeljaukonzentrationen größeren Ausmaßes direkt auf der Bank. Nach einer relativ kurzen Schleppzeit ließ er das Fanggeschirr hieven. Hundertzwanzig Körbe mit großem Kabeljau wurden an Deck gehievt. Bis zum späten Abend kamen noch vierhundertzwanzig Körbe Kabeljau und Rotbarsch dazu, die bearbeitet werden mussten.
Um Mitternacht trat das Schiff die Heimreise an. Kapitän und Besatzung waren mit dem Fangergebnis zufrieden. Die Menge und die Qualität des gefangenen Grönlandkabeljaus sicherten allen einen guten Verdienst.
Die körperlichen Anstrengungen bei der Enteisung und die Angst vor dem Kentern des Schiffes hatten die Decksleute schnell vergessen. Alle freuten sich auf die baldige Heimkehr und das Zusammensein mit ihren Angehörigen.
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