Von Tatjana kam ein kurzes Kichern. Die junge Frau stand fest und ruhig auf dem Boden, ohne zu wanken, als hätte sie schon den ganzen Tag dort gestanden. Sie ließ meine Hand los und steckte ihre Uhr ein. Ihre, wie hieß sie noch gleich? Omunalisuhr?
Sie schmunzelte, während ich mein Kleid raffte und aufstand.
Verstohlen rieb ich mir mein schmerzendes Hinterteil. Meine lächerliche Bruchlandung war mir mehr als peinlich.
»So ergeht es den meisten beim ersten Mal«, tröstete Tatjana mich, als ich versuchte, mir etwas Dreck von dem ohnehin rettungslos beschmutzten Kleid abzuklopfen.
Wir waren auf einem breiten, gekiesten Pfad gelandet, der sich hell durch einen Laubwald schlängelte. Durch das luftige Blätterdach drang warmes Sonnenlicht, das tanzende grüne Punkte auf den Waldweg warf.
»Komm, wir müssen dort entlang«, wies Tatjana mich an und nahm den Weg nach links.
Ich beeilte mich, ihr nachzukommen, und stolperte prompt über ein paar am Boden liegende Stöcke.
Der Weg ging nur ein paar hundert Meter weiter, und als er dann langsam breiter wurde, erkannte ich vor uns eine große Wiese, auf der niedriges Gras neben bunten Frühlingsblumen wuchs. Hinter der Wiese konnte ich gegen das Licht Umrisse von ein paar Häusern ausmachen. Neugierig lief ich weiter.
Neben mir hörte ich Tatjana noch »Vorsicht!« rufen, doch da war ich schon auf ein Stück der Wiese getreten. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie steil abfiel, bevor sie unten gerade weiterging, und verlor sofort den Boden unter den Füßen. Erschrocken ruderte ich mit den Armen in der Luft und erwartete, erneut hinzufallen und blaue Flecken zu bekommen oder mir, noch schlimmer, die Nase zu brechen.
Doch nichts davon geschah. Zwei starke Arme hielten mich fest, sodass ich mein Gleichgewicht wiederfand.
Ich blickte auf und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der etwa in meinem Alter sein musste. Er hatte kurze braune, fast schwarze Haare, durchdringende, strahlend grüne Augen und einen vollen Mund, der sich gerade zu einem neckischen Grinsen verzog.
»Da übt man an einem gewöhnlichen Nachmittag Bogenschießen, langweilt sich dabei und wünscht sich etwas Abwechslung, und als hätte der Himmel meinen Wunsch erhört, fällt mir plötzlich eine wunderschöne Prinzessin mit goldenem Haar und goldenen Augen in die Arme. Von dir, holde Maid, habe ich schon gehört. Du musst die ehrenwerte Lucy sein!«
Ich starrte ihn verdattert an und errötete unter seinen Komplimenten. Doch woher kannte er meinen Namen?
»Ja, das ist sie«, antwortete hinter dem jungen Mann eine andere männliche Stimme.
Ich befreite mich aus den Armen des Grünäugigen, drehte mich zur Seite und erkannte, wer dort stand. Es war der »Schön-wär’s-Mann« mit der türkisfarbenen Iris aus der Halle der Erkenntnis.
Er stand vor einer Gruppe von etwa fünf weiteren Burschen, alle in unserem Alter, die interessiert unserer Unterhaltung lauschten. Sie alle hielten Bogen in der Hand. Ich bemerkte auf der Wiese in fünfzehn Metern Entfernung etliche Zielscheiben, in denen Pfeile steckten.
»Da warst du ja mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort, James«, ertönte Tatjanas belustigte Stimme und erleichtert wandte ich mich zu ihr um.
»Hallo, Tatjana«, begrüßte sie der, der mich aufgefangen hatte, grinsend.
»Wie du richtig erkannt hast, und wie Atlas es dir bestätigt hat, ist das hier Lucy de Mintrus. Unser Neuzugang«, stellte Tatjana mich korrekt vor. »Und? Wie geht das Training voran, James?«
»Es lief sehr gut, bis der Engel neben dir hereingepurzelt ist und uns alle mit seiner Schönheit erstarren ließ.« Er zwinkerte mir zu und ich spürte, wie die Röte meine Wangen hinaufkroch.
Der junge Mann aus der Halle der Erkenntnis gab ein Schnauben von sich, das James herumfahren ließ. »Was ist dein Problem, Atlas?«, zischte er verärgert.
Doch Atlas presste nur seine Kiefer zusammen, wandte sich ab und zog einen Pfeil aus einem am Boden liegenden Köcher. Er zielte auf eine der Scheiben und ließ den Pfeil los. Mit einem Surren zischte der nach vorn und traf die Scheibe genau in der schwarzen Mitte.
Ich starrte den Pfeil mit offenem Mund an.
James sah Atlas an und runzelte, offensichtlich verärgert, die Stirn, bevor er sich wieder mir zuwandte.
»Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen, damit ich mich weiter an eurer Schönheit ergötzen kann, holde Maid.« Er deutete eine Verneigung an und stellte sich gemeinsam mit den anderen auf, um mit dem Bogenschießen fortzufahren, wobei er den am weitesten von Atlas entfernten Platz wählte.
Tatjana legte mir ihre Hand auf die Schulter und bugsierte mich zu einem kleinen Trampelpfad, der sich durch die Wiese zog.
»Da hast du aber ordentlich Verehrer gesammelt«, schmunzelte sie und überholte mich.
Verehrer? Das Wort klang seltsam schön in meinem Kopf nach. Ich hatte noch nie einen jungen Mann getroffen, der mich so mit Komplimenten überhäuft und mit gestelzten Worten meine Schönheit gepriesen hatte wie dieser James. Meine Andersartigkeit hatte auch die Männer von mir ferngehalten.
Ob er mich tatsächlich schön fand? Oder war es lediglich ein Spaß gewesen, den er aufgrund seiner selbst bekundeten Langeweile mit mir getrieben hatte?
Noch mehr Kopfzerbrechen bereitete mir allerdings Atlas’ Verhalten. War er immer so schlecht gelaunt? Oder bekam nur ich diese Seite von ihm zu spüren, weil er mich vielleicht aus einem mir noch unbekannten Grund nicht mochte? Hatte ich etwas Falsches gesagt oder getan? War er wütend, weil ich die Halle der Erkenntnis beschädigt hatte? Er war allerdings schon davor schlecht gelaunt gewesen. Ja, wenn ich es mir recht überlegte, hatte er mich von Anfang an so missbilligend angesehen.
»Nicht trödeln!«, ermahnte mich Tatjana und ich schloss hastig zu ihr auf.
Hinter der Wiese erstreckte sich ein gekiester Hof, um den mehrere Gebäude standen. Tatjana lief auf das am nächsten gelegene zu. Es war groß und weiß und hatte eine breite schwarze Tür, an die Tatjana klopfte. Das Pochen hallte dumpf dahinter nach. Wir hörten eilige Schritte und die Tür wurde von einem jungen Mädchen geöffnet. Sie hatte schulterlange, glatte brünette Haare und trug dunkelblaue enge Hosen und ein weißes T-Shirt, auf dem ein blaugraues Auge mit einer Wolke drumherum aufgedruckt war. Ihre echten Augen strahlten ebenfalls in einer blaugrauen Farbe und sie lächelte uns an. Sie musste wie alle anderen, die ich bisher getroffen hatte – mit Ausnahme der drei Älteren, Tatjana, Elvon und Mr Honk – ungefähr in meinem Alter sein.
»Hallo, Tatjana. Wen hast du denn da aufgegabelt?« Sie musterte mich höchst interessiert und hielt die Tür weit auf.
Tatjana trat ein und ich folgte ihr schüchtern.
»Das ist Lucy de Mintrus. Eine neue Augenschöne aus dem 17. Jahrhundert. Wir haben bereits die Halle der Erkenntnis und den Saal des Wissens aufgesucht.«
Das Mädchen blinzelte mir zu. »Guten Tag, Lucy. Mein Name ist Rosalie, aber du kannst mich Rose nennen. Hast du ebenfalls einen Spitznamen?«
Überrumpelt schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich … ich werde nur Lucy genannt.«
»Das ist nicht schlimm«, lachte Rosalie hell auf, »ich werde schon noch einen für dich finden. Und falls nicht, dann ist das auch nicht der Weltuntergang.«
Sie zwinkerte mir erneut zu und ein warmes Gefühl durchströmte mich. Sie war wunderbar sympathisch, ich mochte sie auf Anhieb.
»Rosalie«, schaltete Tatjana sich ein, »kannst du Lucy mitnehmen und ihr beim Waschen und Anziehen helfen? Ich muss etwas Wichtiges mit Elvon und Mr Starrson besprechen.«
»Selbstverständlich!« Rosalie hakte sich bei mir ein. »Wo soll ich sie hinbringen, wenn wir fertig sind?«
»Zu Mr Starrsons Büro wäre nett. Sie soll davor warten.« Tatjana nickte uns zum Abschied kurz zu und verschwand um die nächste Ecke.
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