Und noch etwas anderes: Es wird sehr viel von Entfaltung und erfülltem Leben gesprochen. Aber es gibt leider auch den geschundenen und unterdrückten Menschen, den Armen und den Analphabeten, es gibt das große Leid und das Kreuz in der Welt. Es gibt Menschen, die äußerlich nie in ihrem Leben zur Entfaltung kommen. Dies wirft all die Fragen auf, die mit dem Theodizee-Problem zusammenhängen: Wie kann der gute und allmächtige Gott dieses große Leid in der Welt zulassen? Wenn er es verhindern könnte und es nicht tut, wäre er nicht gut, und wenn er es nicht verhindern kann, ist er nicht allmächtig. Auch dies hat letztlich mit der Freiheit des Menschen zu tun. Gott will den Menschen frei, und das beinhaltet das Risiko, dass der Mensch sich von Gott abwendet. So geschah es im Paradies und so geschieht es immer wieder. Dies ist eine der Ursachen für das große Leid in der Welt. Zu all diesen Fragen will dieses Buch keine Stellung nehmen, sie wurden an anderer Stelle bearbeitet. 18
Bilder vom blühenden und entfalteten Leben
Ein neues Leben beginnt. Ein Mensch tritt ins Sein. Er ist da. Schrittweise versteht er, was Dasein bedeutet. Ungefragt wurde er von den Eltern in dieses Dasein gebracht, „in die Welt geworfen“ (Heidegger). Jetzt ist er da. Er darf sein und soll sein. Es geht um das Dürfen und Sollen des Daseins: Du bist da, und es ist gut, dass du da bist. Idealerweise bist du von den Eltern gewünscht, gewollt und willkommen auf dieser Welt, von Gott her unbedingt bejaht. Und nun darfst du schrittweise der werden, der du bist, du sollst es sogar. Es gibt also ein zweifaches Sollen: Das erste Sollen ist ein Geschenk: Du darfst sein und sollst sein, du bist willkommen. Das zweite Sollen ist ein Sollen als Aufgabe: Du sollst und kannst mithelfen, dass sich das entfalten kann, was in dir angelegt ist. Hier kommen freie Entscheidungen ins Spiel. Der Mensch kann einschwingen in die Entfaltung seines Daseins, er kann sich aber auch verweigern.
Die alte Philosophie hat das Dürfen als ein Sollen formuliert, als Auftrag und Imperativ: „Werde, der du bist“ und „Erkenne dich selbst“. 19Jeder soll der werden, der er schon ist, er soll sich selbst erkennen. Eine eigenartige Formulierung: Jemand ist schon da und soll noch werden, sich entfalten. Dieses Werden der Entfaltung ist eine Bewegung aus der Wirklichkeit in die Möglichkeit und aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit. 20Es gibt die Wirklichkeit des schon Verwirklichten und die Wirklichkeit des noch Möglichen. Das ist Werden. 21Dieses Werden geht zum Teil von selbst, es muss aber auch mitgestaltet werden.
Das Sein ist schön, gut und wahr. Das kann schon das Kind im Gegenüber zur Mutter und zum Vater „erkennen“. Durch das Lächeln der Eltern hindurch erkennt das Kind das gesamte Sein in seiner Einheit, Gutheit, Wahrheit und Schönheit: Im Lächeln der Mutter sieht das Kind die mütterliche Liebe und wird durch sie „ins Bewußtsein gerufen.“ 22Im weiteren Verlauf dieser Begegnung eröffnet sich dem Kind laut Hans Urs von Balthasar „der Horizont des gesamten unendlichen Seins und zeigt ihm vier Dinge: 1. Daß es ‚eins‘ ist in der Liebe mit seiner Mutter, obwohl ihr gegenübergestellt, also daß alles Sein ‚eins‘ ist. 2. Daß diese Liebe ‚gut‘ ist: also alles Sein gut ist. 3. Daß diese Liebe ‚wahr‘ ist, also alles Sein ‚wahr‘ ist. 4. Daß diese Liebe ‚Freude‘ weckt, also alles Sein ‚schön‘ ist.“ 23So wäre es ideal. Leider werden Kinder auch abgelehnt und haben es somit sehr schwer, zu erkennen, dass das Leben wahr, gut und schön ist.
Es geht im Leben um die Entfaltung dessen, was schon angelegt ist. Ein Blatt entfaltet sich im Frühjahr. Am Baum entfalten sich die Blätter, im Herbst blüht er und bringt Frucht. Ein Mensch wird gezeugt und der Embryo entfaltet sich zum erwachsenen Menschen. Dabei geht es zunächst um die körperliche Entfaltung, dann um die seelische und geistige. Die körperliche Entfaltung geschieht weithin von selbst (bei entsprechender Nahrung), an der seelischen und geistigen kann und muss der Mensch mitwirken. Auch der Kosmos entfaltet sich und dehnt sich aus. Im Urknall ist das Ganze gleichsam eingefaltet und verdichtet, dann entfaltet es sich bis heute. Selbst im Göttlichen spricht das Christentum von der Drei-Faltigkeit Gottes. Diese „Faltigkeit“ ist aber keine Entfaltung im Sinne eines innerweltlichen Werdensprozesses, sondern das göttliche Sein ist schon immer entfaltet. Das Werden ist das Phänomen des Endlichen und Relativen. Dieses Werden hat eine Zielrichtung: Aus dem Samen wird der große Baum, aus der Zygote 24ein erwachsener Mensch.
Man stelle sich den Samen eines Apfelbaumes vor. Er wird in den Boden eingesetzt und wächst heran. Wenn alles gut geht, wird er zum Baum und wird größer. Er wächst von selbst. Nach einiger Zeit trägt er Früchte. Sie ernähren den Menschen. Der Baum bringt von selbst die Frucht hervor, aber er muss auch gut gepflegt werden, braucht Wasser, Licht und Nahrung. Wie steht es mit dem Menschen? Soll er auch Frucht bringen? Geht das auch von selbst? Oder muss er da mitwirken?
Das Leben beginnt ganz klein. Ein Spermium befruchtet eine Eizelle. Neues Leben tritt ins Sein. Der Embryo wächst heran. Ab dem dritten Monat wird er Fetus genannt. Der Fetus wird geboren, die Nabelschnur durchtrennt. Die Trennung von Mutter und Kind beginnt. Aus der Einheit in Verschiedenheit von Mutter und Kind wird das Gegenüber zweier Individuen. Sie schauen sich an. Sie haben ein Antlitz, 25ein Gesicht. Sie kommunizieren jetzt als Gegenüber, wie sie dies schon im Mutterleib in anderer Weise getan haben. Das Kind braucht Zuwendung. Kinder, die nur ernährt werden, sterben. Man muss mit ihnen sprechen, sie berühren, anschauen, anlächeln. Zunächst geht diese Kommunikation nonverbal vonstatten, später mit Worten. Der Mensch ist auf Kommunikation und Beziehung angewiesen.
Das Kind wächst heran. Es lernt laufen, sprechen, denken. Es wird angesprochen und antwortet, es wird angeblickt und blickt zurück, es wird geliebt und liebt zurück. So lernt es sprechen, schauen, lächeln, lieben. So könnte es weitergehen. Aber es kommen neue Herausforderungen hinzu: Es soll lesen und schreiben lernen, einen Beruf ergreifen, den richtigen Lebenspartner finden. Das Leben steht nicht still, es geht weiter. Die Zeit ist nicht anzuhalten und nicht zurückzudrehen. Es geht immer nach vorne.
Die Zeit läuft immer weiter: Die letzten Minuten, die vergangen sind, kommen nie wieder, und die nächsten Minuten waren noch nie da. Insofern – so ähnlich sagt es der Philosoph Martin Heidegger – „gibt“ es keine Vergangenheit, weil sie schon vorbei ist. Und es gibt auch keine Zukunft, weil sie noch nicht da ist. Es gibt nur die Gegenwart der Vergangenheit, die Gegenwart der Zukunft und die Gegenwart der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft fallen in der Gegenwart zusammen. Eigentlich gibt es immer nur das Jetzt. Dies ist ein Hinweis auf die Ewigkeit. Denn die Ewigkeit ist „ständige“ Gegenwart, ist „ständiges“ Jetzt!
Bei Leben und Zeit gibt es eine Dynamik in die Zukunft hinein. Und doch kommt die Zukunft auf den Menschen zu (zu-kunft). Er kann sie nicht machen. Er fällt geradezu immer neu in die auf ihn zukommende Zukunft hinein. Er weiß nicht einmal genau, ob sie kommt. Die kommenden Minuten waren noch nie da. Aller Voraussicht nach kommen sie, genau wissen kann es der Mensch nicht. Die Welt könnte untergehen oder jemand stirbt, dann ist zumindest die eigene Zukunft in dieser Welt dahin. Die Zukunft kommt und baut sich unter jedem Schritt des Menschen neu auf. Sie ragt als noch Kommende in die Gegenwart hinein: Wir machen Pläne, erwarten ein Kind, hoffen auf einen guten Ausgang.
Leben ist im Werden. Es ist Vorübergang. Gibt es in dieser Bewegung des Vorübergehenden auch Bleibendes? Leben wächst: körperlich, seelisch, geistig. Wachstum ist ein zentrales Phänomen des Lebens. Das körperliche Wachstum kommt irgendwann an ein Ende. Aber seelisches Wachstum geschieht ein Leben lang, ebenso wie das geistige Wachstum. Der Mensch ist nie fertig. Er verändert sich äußerlich und verwandelt sich innerlich. Halten wir die Frage nach dem Bleibenden noch offen.
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