»Sind heute nicht deine Versteigerungsergebnisse gekommen?«
»Oh.« Shira blinzelte. »Was habe ich bloß damit gemacht? Ich hatte sie dabei, als ich … ich hole sie. Ich habe sie im Hof fallen lassen.« Sie stand vom Tisch auf und lief den Ausdruck suchen.
Malkah nahm ihn ihr aus der Hand, überflog ihn. »Offensichtlich war es nicht das, was dich so erschüttert hat.«
Shira schaute in ihre leere Suppenschüssel. »Mir geht’s wieder gut.«
»Dein junger Mann also.«
»Er ist nicht meiner. Nicht mehr.«
»Shira, ihr seid zu jung, um euer Lebtag zusammengeschweißt zu bleiben. Du hast nie auf mich gehört, wenn es um Gadi ging, und du wirst jetzt nicht damit anfangen, ich weiß. Ich konnte dich nicht davon abhalten. Niemand kann verliebte Kinder davon abhalten, nur räumliche Trennung. Aber du wirst nie erwachsen werden, wenn ihr einander nicht loslasst.«
»Ich will nicht darüber reden.« Shira stand auf. »Ich räume jetzt den Tisch ab, wenn du mit Essen fertig bist.«
»Trotzdem, irgendwann müssen wir reden.« Malkah fixierte sie mit ihrem dunklen Blick, einem Strahl aus Energie und Willenskraft. »Wir müssen auch über die Versteigerung entscheiden.«
»Was kümmert mich das noch?«
»Gadi wäre nie in die gleichen Universitäten gelangt, die sich um dich reißen, Shira. Du wirst dafür bezahlt, dass du hingehst. Avram wird für ihn bezahlen müssen.«
»Er ist gescheit! Er ist genauso klug wie ich.«
»Aber fauler. Und verzettelt.«
»Aber er ist begabter als wir alle … Nein, ich will ihn nicht mehr verteidigen, ich will ihn nicht erklären. Ich hasse ihn!« Shira begann abzuräumen.
»Du liebst zu heftig. Das besetzt die Mitte und zwängt deine Stärke hinaus. Wenn du in deiner Mitte arbeitest und am Rand liebst, wirst du am Ende besser lieben, Shira. Du wirst großzügiger geben ohne aufzurechnen, und was du bekommst, wirst du genießen.«
Malkah wusste nicht, was Liebe war. Shira weigerte sich, weiter darüber zu reden.
Nach dem Abendessen saßen beide schweigend im letzten Ebenholzzwielicht des Hofes. Malkah war im Netz, hatte sich eingestöpselt in die totale Projektion. Alle in Tikva waren mit Schnittstellen ausgestattet. Sie hatten nicht die üppigen Stimmiespektakel, für die andere Städte sich begeisterten, sie hatten keine Hochempfindlichkeitsfolien oder Windkabinen, aber jedes Kind, das der Stadt geboren wurde, war ausgestattet für direkten Zugriff zum Netz, war Erbe des gesamten Wissens aller Zeitalter.
Das Netz war eine öffentliche Einrichtung, an die Gemeinwesen, Konzerne, Städte, sogar Einzelpersonen angeschlossen waren. Es enthielt die allseitige Information der Welt, lebende Sprachen und viele tote. Es hatte Inhaltsverzeichnisse aller zugänglichen Bibliotheken und bot entweder den vollständigen Text an oder Zusammenfassungen von Büchern und Aufsätzen. Es war das allgemeine Kommunikationsmittel und akzeptierte Bilder, Code oder Stimme. Es war auch ein Spielplatz, ein Irrgarten von Spielen und von Knotenpunkten für Spezialinteressen, ein großes Clubhaus mit vielen tausend Räumen, ein Ort, wo Menschen sich begegneten, ohne sich jemals zu sehen, außer sie zogen es vor, ein Abbild von sich zu zeigen – das ihrem tatsächlichen Aussehen entsprechen mochte oder auch nicht.
Shira hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Hermes lag ungeschickt auf ihrem Schoß, für den er viel zu groß war, während sie vorgab zu lernen. Stattdessen war sie angeschlossen an ein Netzprogramm aus Farben und Figuren, die sich vor ihren geschlossenen Augen bildeten, an Wasser erinnerten, schimmernde Grau-, Grün- und Brauntöne. Sie war nicht total projiziert, sondern distanziert, schaute von außen, ließ den Schmerz sanft in sich hineinströmen wie fließendes Wasser.
Plötzlich, um zwanzig Uhr dreißig, kündigte das Haus Gadi an. Shira schoss empor, der Kater verlor den Halt. Die Buchse wurde aus dem Anschluss in ihrer Schläfe gerissen, ihr wurde übel von der plötzlichen Unterbrechung. Das Haus war seit Jahren programmiert, Gadi zu erkennen und einzulassen, also hatte es ihm einfach aufgemacht. Dummes Haus!
Shira beschloss, in würdigem Schweigen dazustehen und abzuwarten. Aber sowie er mit lockeren, langen Schritten in den Hof geschlendert kam, brach es aus ihr heraus: »Was hast du hier zu suchen? Wieso bist du nicht bei ihr?«
Malkah war da, aber nicht mit ihrem Bewusstsein, blind und taub, total in das Netz projiziert. Gadi warf ihr einen Blick zu, erkannte ihren Zustand, und beide verhielten sich, als sei sie ein Möbelstück.
»Ach komm, das hatte nichts zu bedeuten«, begann Gadi in einem Tonfall, als gelte es, ein krötiges Kind zu besänftigen. »Hier bin ich, bei dir wie immer. Wärst du heute nicht so reingeplatzt, würdest du dich überhaupt nicht aufregen.«
»Ach, du kannst alles machen und es ist meine Schuld, wenn ich es rausbekomme!«
»Sind wir verheiratet? So benimmst du dich. Seit unserem siebenten Lebensjahr sind wir verheiratet, das reinste Gefängnis!«
»Wenn du denkst, ich halte dich gefangen, dann flieh doch! Die Tür steht offen. Bedien dich.«
»Das habe ich auch vor. Ich habe ein Recht zu leben, andere Menschen kennenzulernen, zu erkunden, wer ich bin und wer sie sind.«
»Und, war es eine transzendentale Erfahrung, Hannahs Möse zu erkunden?«
»Shira, wir sind siebzehn Jahre alt. Frag Malkah, ob wir nicht offen sein sollten, andere Menschen kennenzulernen.«
Beide schauten zu Malkah – versunken, die Augen geschlossen. Vielleicht stellte sie Nachforschungen an, vielleicht hielt sie ein Seminar ab mit zwanzig anderen projizierten Teilnehmern, vielleicht flirtete sie mit jemand oder diskutierte.
Shira zitterte vor Empörung. »Ach, auf einmal regiert der gesunde Menschenverstand, die Erwachsenen haben recht, komm, wir vergessen einfach, dass wir uns lieben, und spielen Bilderbuch-Teenies.«
»Wieso kamst du überhaupt rübergerast? Weil du deine Versteigerungsergebnisse hattest, stimmt’s?«
»Ich wollte darüber reden, was wir mit der Universität machen.«
»Wir? Zeig mir mal deine Versteigerungsergebnisse. Na los, zeig sie mir.«
»Dir zeige ich überhaupt nichts.«
»Sie reißen sich doch um dich, oder? Sie glauben, sie können dich zu Geld machen. Schufte einfach vier Jahre so weiter, und dann kriegen sie einen guten Preis für dich, wenn die Multis für dich bieten. Wer will schon einen Künstler? Der alte Avram wird dafür bezahlen müssen, mich auf die Universität zu bringen, hart für ihn. Wie du siehst, haben wir eben nicht die gleichen Alternativen!« Mit wutverzerrtem Gesicht ging er auf sie zu.
»Nicht, wenn es deine Alternative ist, Hannah in dem gleichen Bett zu vögeln, das wir geteilt haben.«
»Das ist mein Haus und mein Zimmer.«
»Du wolltest, dass ich hereinspaziere. Du wusstest genauso gut wie ich, dass die Ergebnisse heute Nachmittag kommen. Du bestrafst mich, weil du nicht so gut abgeschnitten hast. Aber darauf kommt es nicht an, Gadi! Ich glaube an dich!«
Er ging von ihr fort, blieb in der Mitte des Hofes stehen und schaute sich misstrauisch um, als könnte das Haus ihn jeden Moment angreifen. Er benahm sich so, als schlüge er sie tatsächlich. Das Haus würde selbstverständlich mit Sonar angreifen, sollte er ihr körperlichen Schaden zufügen. »Ich muss raus, Shira. Wir sterben, alle beide. Wir sterben zusammen. Fühlst du das denn nicht?«
Sie starrte ihn an, wie er aufrecht dastand, größer schien als je zuvor, oder vielleicht waren es ihre Knie, die nachgaben. Er war für sie verloren. Sie wollte sterben. Sie war nicht mehr Shira, nur noch blutendes Fleisch, ein tosendes Vakuum. Sah er denn nicht, dass er sie beide umbrachte? Sie waren ein doppelter Organismus, ein Wesen. »Ich fühle jetzt nichts als Schmerz.« Sie würde einen Ozean zwischen ihn und sich bringen. Sie würde Malkah dafür bestrafen, dass sie ihre Liebe beleidigt hatte, und Gadi dafür, dass er sie verraten hatte; sie würde weit, weit von beiden weggehen, nach Europa. Sie würde Avrams Rat befolgen und sich fortbegeben, nach Paris, nach Prag, nach Edinburgh. Irgendwohin weit fort von hier.
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