Ich wurde Gast in den Woodmountains. Der junge freie indianische Viehzüchter, dem ich zuerst begegnet war, und seine Familie gehörten zu den Nachfahren jener Gruppen der Teton, die 1877 unter unendlichen Mühen und Gefahren die Black Hills und die umliegenden Prärien, alte Heimat des Stammes, verlassen hatten, nach Kanada ausgewandert waren und dort verblieben sind im Unterschied zu den großen Scharen der Dakota, die nach der Ausrottung der Büffel keine Nahrung in den kanadischen Prärien mehr fanden, und daher in die USA auf die Reservation zurückkehrten. General Custer und seine Truppen waren von den Dakota und ihren Verbündeten besiegt und vernichtet worden, aber neue Truppen rückten nach, und den Dakota mangelte es an Waffen und Munition, die sie nicht selbst herstellen konnten. So mußten sie sich unterwerfen oder gehen. Die kleine Stammesabteilung, die in den Woodmountains eine neue Heimat gefunden hat, lebt von Viehzucht, als Rancher und Cowboys.
Die Woodmountains, 2008. Links: Ehemalige Farm John Okutes Sicas.
Ich saß – in voller Einsamkeit und Abgeschiedenheit – bei dem Ältesten und Häuptling John Okute. Er stand am Ende seines Lebens; langsam sprach er und wog jedes Wort. Die Männer, unter denen er aufgewachsen war, hatten Tashunka-witko und Tatanka-yotanka noch gekannt. Er hat es von klein auf geliebt, den Alten zuzuhören und aus der Geschichte und den Mythen der Dakota alles zu erfahren, was er nur erforschen konnte. Daher trug er als Kind schon den Spitznamen »Alter Mann«. Er wußte viel, und sein ganzes Denken und Leben gehörte den Dakota. Ich lauschte auf das, was er mir zu erzählen hatte, während ringsumher der Wind um Bäume und Gräser strich und der Himmel sich blau über der immer noch einsamen weiten Prärie wölbte.
John Okute war freier Rancher gewesen, bis er sich in seinem Alter zurückzog. Seine Blockhütte stand zwischen Wiesen, Busch und Wald. Weit konnte er über das einsame Land schauen. Er freute sich an Kindern und Enkeln, die gesund heranwuchsen und in deren Ranchhaus ich zu Gast sein durfte. Wenige Monate, nachdem ich bei ihm gesessen und auf seine Worte gelauscht, seine Niederschriften gelesen hatte, ist er gestorben, verehrt und betrauert von allen Indianern, die ihn gekannt haben.
Die Witwe John Okutes gab mir das Manuskript, in dem er aufgezeichnet hat, was ihm wichtig und überliefernswert erschien.
Liselotte Welskopf-Henrich, 1965
Liselotte Welskopf-Henrich (1901-1979) war Schriftstellerin und Professorin für Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr in 18 Sprachen übersetzter Romanzyklus »Die Söhne der Großen Bärin«, ein Kinder- und Jugendbuch über die Zeit der letzten Indianerkriege, erlebte allein in Deutschland eine Gesamtauflage von bis heute ca. 3,5 Millionen. Außerordentlich erfolgreich war auch ihre Pentalogie »Das Blut des Adlers«, in der sie die Zustände auf der Pine-Ridge-Reservation in den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf sehr realistische Weise schildert. Des weiteren unterstützte sie aktiv das American Indian Movement. Vertreter der Lakota verliehen ihr den Ehrennamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«. Eine Biographie über Liselotte Welskopf-Henrich ist 2009 im Palisander Verlag erschienen.
Der Text des Vorworts wurde dem Aufsatz »Bei den Dakota in den Woodmountains« (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlaß Liselotte Welskopf-Henrich, Nr. 152) entnommen und um einige Passagen aus der Einleitung Liselotte Welskopf-Henrichs zu ihrer Übertragung der Erzählung John Okute Sicas »Der Mann mit dem Namen Mato-wa-wo-yuspa, der Bär der zupackt« (im vorliegenden Buch »Der Mann, den sie Seizing Bear nannten«), ergänzt, die sich in ihrem Nachlaß befindet.
Einleitung
Der Stamm, der sich nicht ergab
Im Jahre 1874 hatte eine Militärexpedition unter General Custer in den Black Hills Gold gefunden. Die Black Hills waren historisches Jagdgebiet der Sioux und der als heilig angesehene Mittelpunkt ihrer Welt. Der Vertrag von Fort Laramie aus dem Jahre 1868 hatte ihnen die Black Hills zur uneingeschränkten und exklusiven Nutzung und Besiedlung zugeschrieben. Nun jedoch strömten zahllose Goldsucher in das Gebirge, und die Regierung versuchte mit allen Mitteln, die Lakota zum Verkauf des Gebietes zu bewegen. Im Winter 1875 beschloß die US-Regierung, die Black Hills mit Gewalt in ihren Besitz zu bringen. Sie erließ den Befehl, daß sämtliche Sioux sich unverzüglich in die bestehenden Reservationen zu begeben hätten. Dies führte zum Aufstand. Tausende Reservationsindianer verließen im Frühjahr 1876 heimlich die Reservationen und schlossen sich den freilebenden Sioux des Westens an. Lieber wollten sie im Kampfe sterben, als den Raub ihres heiligen Stammeslandes zu dulden.
General Custer wurde ausgesandt, um die Aufständischen zu zwingen, sich zu ergeben. Am 25. Juni fand die Schlacht am Little Bighorn River statt. Custers Kavallerieregiment wurde geschlagen, er selbst getötet. Dies war der letzte große Sieg der Lakota und ihrer Verbündeten über die US-Army. Nach dieser Schlacht zerbrach die Einheit der Sioux. Allzu stark waren ihre Gegner, und letztendlich blieb nur die Wahl zwischen Flucht und Unterwerfung. Einige Häuptlinge entschlossen sich, nach Kanada zu gehen. Im Winter 1876 befanden sich in Wood Mountain, Saskatchewan, bereits 2 900 Lakota, davon sehr viele Frauen und Kinder, die auf diese Weise in Sicherheit gebracht worden waren.2 Anfang 1877 trafen sich die Häuptlinge Sitting Bull und Crazy Horse und berieten darüber, ob sie sich ergeben oder nach Kanada fliehen sollten. Crazy Horse ergab sich mit seiner Stammesgruppe am 6. Mai 1877. Etwa zur gleichen Zeit führte Sitting Bull seine Húnkpapa über die kanadische Grenze nach Wood Mountain. Nachdem Crazy Horse im September im Fort Robinson ermordet worden war, flohen weitere Lakota nach Kanada. Es hieß, daß Crazy Horse im Sterben gesagt habe: »Ich wollte schon immer ins ›Land der Großmutter‹3 gehen. In wenigen Augenblicken werde ich tot sein, und dann werde ich mich dorthin begeben. Ich will, daß ihr alle mir folgt.« Unter den Häuptlingen, die 1877 nach Kanada gingen, war auch der Minneconjou Black Moon, der Sitting Bull bereits bei seiner Wahl zum obersten Häuptling der Lakota im Jahre 1869 unterstützt hatte und der mit seiner kleinen Stammesgruppe an der Schlacht am Little Bighorn beteiligt gewesen war.
Im Frühjahr 1878 lebten 5 000 Sioux aus allen sieben Lakotastämmen – Húnkpapa, Oglála, Sičángu (Brulé), Mnikchówožu (Minneconjou), Itázipčo (Sans Arc), Sihásapa (Blackfeet) und Oóhenunpa (Two Kettles) – in der Gegend um Wood Mountain, dem Standort einer Garnison der berittenen Polizei des Nordwestens, und Willow Bunch, einer nahegelegenen Mestizensiedlung. Sie versuchten, ihr traditionelles, auf der Büffeljagd beruhendes Leben fortzusetzen. Doch immer weniger Büffel kamen, und um 1880 blieben sie vollkommen aus. Es dauerte nicht lange und der übrige Wildbestand in der Region brach ebenfalls zusammen. Unter solchen Umständen Tausende Menschen zu ernähren, erwies sich als nahezu unmöglich. Eine Hungersnot brach aus. Bereits 1878 kehrten die ersten Sioux wieder zurück in die Reservationen in den USA.
Häuptling Tatánka Íyotake, Sitting Bull. Fotografie aus dem Jahre 1885.
Einige Frauen der Lakota heirateten weiße Männer, um das Überleben ihrer Familien in dieser Zeit der Not zu sichern. Oft hatten solche Ehen keinen Bestand. Eine derartige Begebenheit wird in der Erzählung »Ité-ská-wí« geschildert.
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