Als sie an seine Drohung dachte, wurde ihr mulmig. Alleine der Gedanke, er könnte seine widerlichen fleischigen Hände auf ihr verewigen, schickte ihr einen Schauer über die Haut. Sie suchte in Johns Augen Halt und Hilfe. Doch in diesen spiegelte sich lediglich blanker Hass und unterdrückte Wut. Ob er seine Selbstbeherrschung gleich vollends verlor? Mit seiner sauberen Serviette wischte John sich den Wein von der Haut. Sie musste sich irgendwie ablenken und starrte auf Johns Hände. Schöne gepflegte Fingernägel und schlanke lange Finger, stellte sie fest. Soweit sie es beurteilen konnte, waren diese Hände keine harte körperliche Arbeit gewohnt. Und da war er, der Gedanke, der so abwegig war, dass es fast lächerlich schien: Wie es wohl wäre, wenn er sie damit streichelte.
„Ella, alles okay?“, fragte er sie, und riss sie aus ihren Gedanken.
„Äh, ja … mir geht’s gut. Alles okay. Alles ganz toll.“ Oh Mann, lass ihn nicht so eine Gabe wie Gedankenlesen besitzen, betete sie vor sich hin. Sie wollte nun endlich wissen, ob und welche Fähigkeit er besaß. Ella hatte den Verdacht, vergeblich darauf zu warten, dass er sein Geheimnis ungefragt offenbaren würde. Außerdem musste sie diesen peinlichen Moment vertreiben. „Welche besondere Fähigkeit hast du denn?“
Erneut beugte er sich ihr ein wenig entgegen, sodass sie glaubte, in seinen Augen kleine goldene Sprenkel erkennen zu können. „Ist das alles, was du wissen willst?“
Versuchte er etwa, mit ihr zu flirten? Ella zwang sich, nicht laut aufzulachen. Das war jetzt nicht sein Ernst. Sie versuchte hier irgendwie ein vernünftiges Gespräch zu führen, um diese bescheuerte Situation einigermaßen erträglich hinter sich zu bringen, und er baggerte sie an? Der hatte vielleicht Nerven. Na warte, was du kannst, kann ich schon lange. „Nein, natürlich nicht.“ Sie leckte sich lasziv über die Lippen und sah ihn mit einem verführerischen Blick an. „Natürlich will ich wissen, was du alles kannst. Schließlich will ich nicht mit einem Loser, du weißt schon.“
Er lachte auf, dann antwortete er mit einem Zwinkern: „Hypnose“.
Irritiert wich sie ein wenig zurück. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Hypnotiseure? Gab es die nicht an jeder Straßenecke? Warum sollten die ihn deshalb in das Zuchtprogramm aufnehmen? Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass er ihr die ganze Wahrheit erzählte. Andererseits, warum sollte er sie belügen? Was hatte sie Besonderes vorzuweisen? Ein paar lächerliche Träume, und damit konnte sie rein gar nichts gegen Sauer ausrichten. Ella griff nach der nächsten Weinbergschnecke und wünschte sich stattdessen ein saftiges Steak.
„Die Schnecken sind gut. Dir schmecken sie wohl nicht sonderlich?“ John steckte sich bereits eine weitere in den Mund. „Oder hat dir meine Offenbarung den Appetit verdorben?“
„Dass du auf Schnecken stehst, ist beruhigend. Meist sind die hübschen Männer schwul.“ Sie lächelte süffisant. „Hypnose ist ja eher unspektakulär, so etwas verdirbt mir nicht den Appetit.“
„Einige Schnecken nehmen den Mund besonders voll. Sind überaus reizend und pfeffrig. Ich mag es scharf und ich liebe das Außergewöhnliche, allerdings gehört schwul sein nicht dazu.“
„Achtung, einige sind ungenießbar und sogar extrem giftig“, konterte sie. Dass es zwischen ihnen knisterte, während sie sich diesen kleinen Schlagabtausch lieferten, konnte sie nicht von der Hand weisen. Er war amüsant und nicht auf den Mund gefallen. Und wenn er sie so ansah, brachte er sie mehr als nur aus der Fassung. Sie war nun wirklich neugierig auf mehr. Ella stand nicht auf Langweiler. John schien ihr ebenbürtig zu sein.
Amüsiert zog er eine Braue in die Höhe und sah sie provozierend an. Sie wusste nicht recht, wie sie ihn einschätzen sollte. War es Galgenhumor, der ihm derartige Äußerungen entlockte? Wieder trafen sich ihre Blicke, und obwohl sie ihn eigentlich weiterhin necken wollte, verflog dieses Gefühl in demselben Moment, in dem sie in seine Augen eintauchte. An einem seiner Mundwinkel hatte Weißweinsoße eine Spur hinterlassen, und als ihr Blick kurz daran verharrte und dann weiter über seine geschwungenen Lippen wanderte, musste sie schlucken. Beim Anblick seines Mundes blieb Ella die Spucke weg. Egal, was er für eine Nummer abzog, sie beschloss, auf alles gefasst zu sein und es ihm nicht zu leicht zu machen. Endlich hatte Ella ihre Fassung wiedererlangt.
„Und? Hypnotisierst du mich jetzt?“, fragte sie plötzlich.
„Möchtest du das?“ Er kräuselte die Lippen und nahm noch einen Schluck aus dem neuen Glas, das frisch gefüllt vor ihm stand.
„Nein danke, ich brauche keinen Therapeuten. Ich rauche nicht und mit meinem Gewicht ist auch alles in Ordnung. Du siehst, deine Fähigkeiten werden nicht benötigt.“ Irgendwie bereitete ihr der Gedanke, er könnte sie so gefügig machen, Unwohlsein.
„Konnte ich mir auch nicht vorstellen. Ich schätze dich eher so ein, dass du jeden Augenblick mit mir genießen willst. Aber bitte korrigiere mich, wenn ich da falsch liegen sollte.“
Frechheit. Wie konnte er nur? „Wendest du deine Gabe bereits bei dir selbst an, oder wie kommt es zu dieser eindeutigen Selbstüberschätzung? Schade, ich hoffe du bist nicht enttäuscht, dass ich dir nicht gleich die Klamotten vom Leib reiße.“
„Warum sollte ich enttäuscht sein? Ich genieße auch angezogen jeden Moment in deiner Nähe.“
Irgendwie musste sie das Gespräch wieder in eine andere Richtung lenken. Das war ja kaum noch an Dreistigkeit zu überbieten. Und es fehlten ihr langsam die Worte. Während sie vor sich hin grübelte, trat der Kellner an den Tisch und räumte die leeren Teller ab.
„Und womit verdienst du deine Brötchen?“ Sie tupfte sich die Lippen ab, ließ ihn nicht antworten und fuhr fort. „Ach, lass mich raten, du hypnotisierst Passanten und ziehst ihnen das Geld aus der Tasche.“ Zuckersüß lächelte sie ihn an, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht und war froh, dass ihr doch noch etwas Passendes eingefallen war.
„Na, jedenfalls hat dir diese ganze Geschichte nicht die Sprache verschlagen. Auf den Mund bist du ja nicht gefallen.“ Und dann, als hätte er ihre bissige Bemerkung überhört, antwortete er: „IT-Branche. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass wir uns um unsere Jobs noch Gedanken machen müssen.“
„Wieso? Ich meine, wie kommst du darauf?“
„Tot. Du und ich sind für die Welt da draußen nicht mehr existent.“
Sprachlos sah sie ihn an. Dann fand sie ihre Stimme wieder. „Woher willst du das wissen?“
„Oh, auf einmal so einsilbig?“ Er sah sie aufmerksam an und sprach dann weiter: „Sie haben es mir brühwarm zum Frühstück serviert. Eine Aufnahme meiner Beerdigung aus nächster Nähe.“
Er wirkte jetzt sehr ernst und sie glaubte in seinem Blick einen Hauch von Angst ausmachen zu können. Nun war ihr der Appetit doch noch vergangen. „Du glaubst, dass es bei mir genauso ist?“
Wenn man in einem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte, dann war es wohl ihres. Immer schon hatte ihr Gefühlsleben sich darin gespiegelt und ihrem Gegenüber gezeigt, wie sehr sie etwas bewegte. So war es jetzt offenbar auch, denn plötzlich legte er seine Hand auf ihre und sah sie bedauernd an.
„Mach dir keine falschen Hoffnungen. Glaube mir, nach uns sucht niemand.“
Sie musste schlucken und ihr war nicht entgangen, wie sich seine Gesichtszüge erneut verhärteten. Das hier war kein angenehmes Abendessen, es glich eher einem Albtraum. Es war noch nicht einmal eine Stunde vergangen und sie hatte die größte Spanne ihrer Gefühle durchlebt. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, schreiend davonzulaufen und ihn tröstend in die Arme zu schließen, sah sie zu ihm rüber. Fast glaubte sie an eine unsichtbare Verbindung, denn es kam ihr vor, als durchflutete sie Kraft und Zuversicht, und das nur durch die Berührung seiner Hände.
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