Derweilen schlich der Zug aus dem Bahnhof hinaus. Nachdem die letzten Ausläufer der Chemiegiganten Konrads Blicken entschwanden, fuhr der Zug immer schneller, sodass Konrad wieder den Eindruck hatte, die Welt drehe sich ihm vorbei, sie drehe sich um ihn, ein tolles Gefühl. Dann kamen wieder die bekannten riesigen Kohletagebaue in Sicht. Mindestens zehn bis fünfzehn Minuten konnte Konrad diese, sich vorbeidrehende spannende Welt bewundern. Wie die riesigen Kettenbagger arbeiteten und die Züge beluden. Alles bewegte sich wie von Zauberhand gesteuert. Die Technik hatte es Konrad angetan, schon als Sechsjähriger, und trotzdem landete er wenig später in einem vollkommen anderen Metier, nämlich der Landwirtschaft und bei den Pferden.
Konrad war nach seiner ersten Alleinreise wohlbehalten wieder zu Hause angekommen. Die Mutter war glücklich und fragte dies und das, vor allem wie es Oma und Opa geht. Schönen Gruß war noch zu bestellen, was Konrad fast vergessen hatte. Bloß gut, dass die Oma wenigstens das Fahrgeld erstattet hat, wo es bei ihr nicht einmal etwas zu essen gab. Deshalb hatte Konrad auch einen Löwenhunger, was die Mutter schon geahnt hatte und ein paar Eier gekocht hatte. Schnell wurden Brotscheiben geschnitten, mit Eischeiben belegt und eine zweite Brotscheibe daraufgelegt – fertig war die sächsische Doppelbemme. Das war Konrads Welt. Heißhungrig verschlang er die Bemme, sodass die Mutter noch eine zweite machen musste, während dessen Konrad seine Reiseabenteuer erzählte, vor allem, dass er von der Oma nichts zu essen bekommen hat, was die Mutter sehr empörte. Sie tröstete Konrad damit, dass der Vater eine Reise mit der gesamten Familie nach Berlin geplant hat. In Berlin-Charlottenburg, also Westberlin, hatte der Vater einen ehemaligen Kriegskameraden wohnen, den er einmal besuchen wollte. Außerdem haben wir auch noch die Tante Klara, eine Schwester von Oma Amanda, die mit ihrer Tochter und deren Ehemann in Ostberlin ein schönes Einfamilienhaus bewohnten.
Irgendwann war es soweit, wir fuhren allesamt nach Berlin. Um Geld zu sparen fuhr man mit dem Personenzug, dritte Klasse auf Holzbänken. In der Heimatstadt von Konrads Vater mussten sie das erste Mal umsteigen in den Zug, welcher sie bis nach Berlin bringen sollte. Obwohl wir fünf Personen waren, hatten alle anfangs einen Sitzplatz auf den harten Holzbänken. Damals war es noch Usus, dass Kinder aufstanden, wenn die Zusteigenden ältere Leute oder Frauen waren. Man stelle sich vor, das bis zirka vierzig Haltepunkte des Zuges für die Kinder ein dauerndes Aufstehen und Hinsetzen war, worüber sie aber in Anbetracht der harten Holzbänke nicht immer böse waren.
Die Eltern blieben die ganze Fahrt sitzen, außer sie mussten mal aufs Klo und das war ein unbeschreibliches Abenteuer, dessen Beschreibung der Autor lieber weglassen will. Und die Fahrt zog sich hin, Stunde um Stunde. Auch die Landschaft war langweilig, kilometerweit Kiefernwald. Der Zug hielt an jedem Briefkasten, mehr war meist nicht zu sehen in Preußen – ein langweiliges Land. Nach Stunden hörten die Wälder plötzlich auf, die Bahn überquerte Wasserläufe, passierte große Seen und die ersten Häuser von Berlin tauchten auf. Die bis dahin alle Reisenden beherrschende Lethargie verwandelte sich plötzlich in eine Euphorie. Alle wollten ans Fenster und die ersten Eindrücke aufsaugen von Berlin, von Westberlin. Von Berlin war für die Ostdeutschen, damals schon DDR-Bürger, natürlich nur Westberlin interessant.
Der Zielbahnhof des besagten Zuges lag irgendwo in Westberlin. Von diesem Bahnhof waren alle weiteren Reiseziele mit der S-Bahn zu erreichen. Dafür waren die Ortskenntnisse von Konrads Mutter absolut nützlich für die weitere Reise. Konrads Mutter hatte viele Jahre ihres Lebens in Berlin bei ihrer Tante Klara verbracht, deren Familie, genau wie die von Konrads Oma Amanda, nach dem Ersten Weltkrieg aus ihrer Heimat Posen vertrieben worden war. Die einen waren in einem Nest in Sachsen gelandet (Amanda) und die anderen in Berlin (Klara).
Zuerst sollte aber der ehemalige Kriegskamerad von Konrads Vater aufgesucht werden. Irgendwie war das Haus schnell gefunden. Es befand sich in einer Gegend, die vom Krieg nicht betroffen war, eine hässliche Straße mit hässlichen fünfstöckigen Wohnhäusern mit noch hässlicheren Hinterhäusern, welche von winzigen Hinterhöfen unterbrochen waren. Und in so einem Hinterhaus im Erdgeschoss wohnte der besagte ehemalige Kriegskamerad von Konrads Vater. Kein Sonnenstrahl erreichte den Hof, geschweige die Wohnung. Obwohl Konrads Familie nicht aus dem Reichtum kam, war aber diese Wohngegend absolut beängstigend, sodass der Besuch recht kurz ausfiel.
Ein Stadtbummel durch Charlottenburg schloss sich an. Auf der nächsten Hauptstraße sah das schon ganz anders aus, da war schon der Wohlstand ausgebrochen, es gab alles was das Herz begehrt. Nagelneue Autos, Motorräder und tolle Fahrräder beherrschten das Straßenbild. An den Autos stach Konrad ein Globus über dem Kühler der meisten Fahrzeuge ins Auge. Opel-Olympia lautete der Schriftzug am Kotflügel dieser Autos, was ihm zwar nicht viel sagte, aber die Häufigkeit dieser Automarke erkennbar machte; und was waren die Autos schön. Konrad träumte von einem Fahrrad, sein Bruder Günter wünschte sich einen Fotoapparat. „Du brauchst Schuhe“, sagte die Mutter. Schwester Ruth träumte von schönen Stoffen für ein Kleid zur bevorstehenden Konfirmation oder von einem fertigen Kleid. Es gab alles. Die Eltern hatten andere Sorgen, nämlich der Kauf von Lebensmitteln, weshalb die Familie eigentlich nach Berlin gefahren war. Für die Kinder war das unwichtig, obwohl sie dauernd Hunger hatten, vor allem auf die herrliche Schokolade und andere Süßigkeiten, die sie überhaupt nicht kannten. Auch Kaugummi aus Amerika – etwas ganz tolles. Stundenlag konnte man darauf herumkauen.
Wie Konrads Eltern das mit dem Geld gemacht haben, das wusste er noch nicht, interessiert Kinder auch nicht. Günter bekam das meiste, ein paar neue Schuhe, die brauchte er unbedingt. Echte Lederschuhe mit Kreppsohle, das war damals der absolute Renner. Was gab es da alles in Westberlin.
Obwohl noch viele Häuser stark beschädigt waren, gab es trotzdem schon viele Läden in Häusern, wo die Obergeschosse gar nicht mehr da waren. Händler, die keinen Laden hatten, präsentierten ihre Waren auf Tischen auf der Straße. Konrad hätte alles gebrauchen können, was er sah, vor allem Spielzeuge aller Art. Cowboy-Ausrüstungen mit Spielzeug-Colts. Und Wasserpistolen hatten es ihm besonders angetan. Eine Wasserpistole aus durchsichtigem Kunststoff wollte er haben und bettelte die Eltern solange an, bis sie nachgaben und diese kauften. Sie war schön verpackt und wurde vom Händler nicht vorgeführt. Zu Hause kam dann die große Enttäuschung für Konrad, die Wasserpistole funktionierte nicht. Da half kein Schütteln oder Stoßen, auch kein Gebet – das Ding wollte nicht.
Die Familie war aber noch in Berlin, das heißt Westberlin. Für die Eltern galt es nun, das wenige Geld was sie hatten für Lebensmittelkäufe einzusetzen. Der Renner waren Bücklinge, eine Kiste. Dann kamen Rollmöpse, auch eine große Dose, dran. Und dann war das Westgeld auch alle, wie Konrad mitbekam. Ruth bekam damals noch nichts. Für sie sollte später einmal Stoff für ihre bevorstehende Konfirmation gekauft werden, aber darauf musste erst wieder streng gespart werden. Im Laufe des Aufenthaltes und der Gespräche der Großen bekam Konrad mit, dass unser Ostgeld erst in Westgeld umgetauscht werden musste, und das das Ostgeld viel weniger wert war als das Westgeld.
Beladen wie sie waren, konnten sie dieses Mal Tante Klara nicht besuchen und fuhren an dem Tag spät abends wieder nach Hause. Die eingekauften Bücklinge und Rollmöpse reichten nicht lange, die nächste Berlinreise stand an.
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