Mit diesem Buch habe ich mir die Aufgabe gestellt, die Probleme des Gemeindebaus in der Stadt zu reflektieren. Es gilt zu verstehen, warum Mission und Evangelisation in urbanen Räumen zu einer so schwierigen Aufgabe geworden sind. Und es gilt, nach möglichen Lösungen zu suchen. „Das Christentum ist allem anderen voran ein Weg des Sehens“, schreibt der amerikanische Theologe Robert Barron.3 Wir wollen sehen, ob uns Gottes Geist nicht jene Sicht schenken wird, die Frustration in Begeisterung, Hoffnungslosigkeit in eine neue Leidenschaft und Hilflosigkeit in Sachen urbaner Gemeindearbeit in Kreativität verwandeln kann. Gelänge es mir, so wäre die Aufgabe erfüllt. Denn schließlich ist es ja Gott selbst, der seine Gemeinde baut, nicht wir. Dietrich Bonhoeffers Worte erinnern uns daran, worauf es ankommt. Er schreibt: „Kein Mensch baut die Kirche, sondern Christus allein. Wer die Kirche bauen will, ist gewiss schon am Werk der Zerstörung; denn er wird einen Götzentempel bauen, ohne es zu wollen und zu wissen. Wir sollen bekennen – ER baut. Wir sollen verkündigen – ER baut. Wir sollen zu ihm beten – ER baut.“4 Wir Menschen bauen nur mit. Alles, was wir können, ist Augen und Ohren offen halten und von IHM lernen.
Nein, in diesem Buch will ich keine Anleitung zum Gemeindebau geben. Es ist weniger ein „How-to-do“-Buch. Ich will vielmehr zum Denken anregen. Veränderung setzt die Änderung des Denkens voraus, schreibt der Apostel Paulus (Röm. 12,1-2). Unsere Unzulänglichkeit ist in der Regel das Ergebnis eingerosteten Denkens. Wer lange genug in traditionellen Sichtweisen verweilt, wird bald für neue, innovative Wege blind. Diese Blindheit zu überwinden heißt am Ende, eine neue Welle kreativer Ansätze im Gemeindebau zu wagen. Genau das wünsche ich mir für meine Leser. Ich selbst habe immer wieder durch die Lektüre eines Buches oder eine Vorlesung Aha-Erlebnisse gehabt, die mich herausforderten, aber auch aus der Lethargie, aus der Unbeweglichkeit der eingefahrenen Situation, befreiten. Man kann auch sagen, Gott nutzte Bücher, um meinen Horizont zu erweitern. Ich hoffe, das tut ER auch durch dieses Buch.
Ich will zum Nachdenken über die Chancen und Möglichkeiten urbaner Gemeindearbeit anregen. Und ich tue das nicht nur als Theologe. Ich trage nicht aus der Bibliothek einer Fakultät für urbane Mission vor, auch wenn ich durch Hinweise auf entsprechende Literatur den Zuhörern einen Zugang zu der zurzeit geführten Diskussion ermöglichen möchte. Ich trage als betroffener Gemeindegründer und Gemeindepastor vor. Gemeindearbeit ist meine Leidenschaft. Was wäre meine theologische Arbeit wert, wenn da nicht die Herausforderung der praktischen Gemeindearbeit wäre? Dieses Buch ist in bewusster Reflexion der Praxis, und hier vor allem meiner eigenen Praxis, entstanden. Es atmet eine Theologie, die aus der Praxis kommt und in die Praxis führen will. Und so widme ich es auch allen jenen Gemeindemitarbeitern, die mit mir zusammen an Konzepten für Gemeindebau gearbeitet haben.
Johannes Reimer
Bergneustadt im Herbst 2017
TEIL 1
Kapitel 1
Gemeinden gründen, wo der Glaube stirbt
1.1. Sehnsuchtsort Stadt
Die Stadt – seit Urzeiten ist sie ein Ort menschlicher Sehnsucht. An keinem anderen Ort erhofft sich der Mensch so sehr, das Leben in die eigene Hand nehmen zu können. Und so strömten seit der Gründung der ersten uns bekannten Stadt Jericho vor 10 000 Jahren bis heute Millionen von Menschen in die rasant wachsenden Städte der Welt.5 Sie verlassen ihre Dörfer, weil sie sich auf dem Land unsicher fühlen und oft nur wenig Chancen zum Überleben sehen.
John, ein junger Afrikaner, der gerade in Hamburg gelandet ist, erzählt:
„Ich bin in einem Dorf im östlichen Kongo geboren. Zusammen mit einigen jungen Leuten aus meinem Dorf gelang mir nach Jahren langer und gefährlicher Reise die Flucht nach Deutschland. Heute lebe ich hier in Hamburg in einer Flüchtlingsunterkunft. Nur noch wenige Alte leben in unserem Dorf. Die meisten Einwohner sind weg. Bei uns zu Hause wollen alle so schnell wie möglich in die Stadt. In der Stadt gibt es Arbeit, und man findet immer etwas zu essen. Im Vergleich mit dem Elend auf dem Land im Kongo ist jedes Leben in der Stadt ein Paradies. Sogar in den Slums von Kinshasa.“
So wie John geht es Millionen. Fast ein Drittel der Weltbevölkerung lebt bereits in Städten, und es werden immer mehr. Am Ende des 21. Jahrhunderts, so die Prognosen, werden drei Viertel der Weltbevölkerung in Städten wohnen. Die Erde wird zu einem urbanisierten Planeten.
Städte wachsen, weil Menschen in die Stadt fliehen. Während die klassische Landbevölkerung, z. B. in Afrika, hohe Geburtenraten vorweist, werden die Familien in der Stadt immer kleiner.6 Es ist die wachsende Landbevölkerung, die für das Wachstum der Städte sorgt. Die Urbanisierung erweist sich somit als die effektivste Methode der Geburtenkontrolle.
Menschen suchen ihr Glück in der Stadt. Kommen sie dieser aber näher, so finden die meisten von ihnen zunächst bittere Armut und Elend. Viele von ihnen landen in den Elendsvierteln, Slums und Favelas, die Doug Saunders, kanadischer Journalist und Reisender, „Arrival Cities“ nennt. Er hat 25 Slums auf fünf Kontinenten besucht und überrascht mit einer radikalen, weil positiven These. Sein Buch „Arrival City“ weitet den Blick und zeigt auf, wie gerade die Landflüchtlinge heute die Zukunft so mancher Stadt bestimmen.7 Denn sie sind es, die den Kampf ums Überleben aufnehmen und dabei nicht nur einen erstaunlichen Lebenswillen, sondern auch einen hohen Grad an Innovation aufweisen. In ihren „urbanen Dörfern“ wird alles von dem einen Ziel getragen, so schnell wie möglich den Weg zum sozialen Aufstieg zu finden, koste es, was es wolle. Saunders spricht von den Ankunftsstädten als Hotspots urbaner Innovation.
Natürlich, jeder auch noch so geringe Aufstieg resultiert in der Transformation oder auch im Wechsel des sozialen Raumes. Und schafft man den Aufstieg in die besser betuchte Gesellschaft, so landet man heute in den sogenannten „gated communities“, geschlossenen Wohnvierteln, in die man nur durch einen entsprechenden Ausweis hineinkommt. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang in den USA8 und ist heute in den meisten Ländern der Welt zu beobachten.9 Der soziale und ökonomische Wohlstand sind gerade in der Stadt gefährdet, schließlich drängen Massen von Neuankömmlingen nach oben und beanspruchen den gleichen Stand auch für ihr eigenes Leben. Die Angst vor Kriminalität zwingt dem Erfolgreichen regelrecht ein Leben hinter hohen Mauern auf.10
Städte sind somit keine einheitlichen sozialen Räume. Sie zeichnen sich durch ständige Veränderung, Wachstum und Verfall und vor allem Ausdehnung aus. Die kompakte, ummauerte Stadt, wie sie noch im Mittelalter existierte, gibt es so nicht mehr. Heute dehnen sich die Städte weit ins Umland aus und bilden ein metropolitanes Gebiet, das in seinen Vororten immer wieder beides sein kann, sowohl Stadt als auch Dorf mit urbanem Charakter. In der Literatur spricht man von der Zwischenstadt.11 Zeichneten sich Städte früher durch Urbanität aus, eine Haltung größerer Toleranz und Durchmischung der Bevölkerung, die die Lebensweise der Städter von der Landbevölkerung unterschied, so ist das Bild heute um ein Vielfaches differenzierter und komplexer. Die rasante Entwicklung dieser komplexen, sozialen Räume schürt seit der Mitte des letzten Jahrhunderts Angst vor dem Kollaps gesellschaftlicher Strukturen.12 Muss man tatsächlich Angst vor der Stadt haben? Oder bietet diese Entwicklung eine Chance, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren? Meinungen, ja sogar Untersuchungen dazu gehen weit auseinander. Und was bedeutet die Urbanisierung für die Entwicklung der christlichen Mission und den Gemeindebau? In diesem Buch gehen wir der Frage nach.
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