Tora war in Gedanken versunken. Die anderen, die so einfältig und klein waren, taten ihr direkt ein bisschen leid. Mit einem Mal war alles dort draußen ein überwundenes Stadium – über das sie sich hoch erhaben fühlte. Nein, sie hatte wichtigere Dinge zu tun. Einen Brief zu schreiben.
Nas-Eldar fuhr die letzten Kohlen für den Winterbrand ringsum in die weißen und blauen und roten Häuser. Es gab viele Bestellungen und viel Arbeit. Und es gab nur einen Lastwagen, den ausgenommen, den Dahl für seine Fischfabrik und die Frosterei besaß. Eldar hatte keinen Konkurrenten und nahm sich Zeit.
Die Leute fluchten nicht wenig, wenn er nicht einmal seinen Priem von der einen Seite auf die andere schob, um Bescheid zu sagen, dass er keine Zeit habe, sondern nur die rechte Autotür wieder zuknallte und hinüberrutschte auf den linken Sitz, weil man die Tür zum Fahrersitz von außen nicht öffnen konnte. »Das ist die Gicht«, grinste er mit seinem Gesicht voll bläulicher, einen Tag alter Bartstoppeln. »Im Herbst und in der Winterkälte ist er immer so!«
Er – war der Lastwagen, der nach der Meinung des Alten die feinsten Empfindungen auf der ganzen Insel hatte.
Nas-Eldar kam, wenn er kam – darauf konnte man sich verlassen. Eldars Auto fuhr Leichen und Brautleute. Er schmückte die Seitenteile mit Kreppstreifen und norwegischen Fähnchen und Laub, falls er Zeit dafür fand. Wenn er schlechte Laune hatte, dann stieß er zwischen den Zähnen hervor: »Könnt selber schmücken!« Er fuhr geschlachtete Schafe, Kohlen, Trockenfisch und Dung – ohne Schmuck. Er fuhr arme Leute – und feine Leute im Mantel. Eldars Auto war überall und nirgends aufzutreiben. Da half kein Betteln oder Drohen.
Aber Tora hatte keinen Bedarf an Lastwagen. Merkte nicht, dass die Kohle im Ofen ausbrannte. Trotzdem hörte sie den Krach da draußen und verstand mit einem kleinen, unwesentlichen und irdischen Teil ihrer selbst, was da los war.
Lange schaute sie angestrengt auf ihre eigenen Buchstaben. Dann entdeckte sie die Schatten. Die Dämmerung kroch aus allen Ecken. Stand schon im Küchenfenster. Tora schaltete die Deckenlampe ein. Das Licht flutete heftig und hell auf sie herab und warf ihren Schatten an die Wand. Aber sie sah jetzt.
Sie erzählte und dichtete. Viele Dinge brachen aus ihr heraus, die sie ihm nie hatte begreiflich machen können, während sie einander nahe waren und zusammen spielten oder auf dem Bett mit der Strickdecke saßen. Sie deutete an, dass sie den ganzen Sommer über mit allen möglichen Dingen sehr beschäftigt gewesen sei … Und während sie schrieb, begann ihr Körper zu schweben. Das Leben wurde so leicht.
Toras magere Hand suchte drinnen in der Stube in Ingrids Schublade, bis sie fand, was sie suchte: die kleine graue Schachtel mit dem Kleingeld für unvorhergesehene Fälle. Sie zählte das Geld für das Porto genau ab und tilgte alle Spuren.
Sie empfand keinerlei Reue. Zog nur den schwarzen Regenmantel über und sprang in die nicht mehr wasserdichten Stiefel. Sie hatte die Strümpfe nicht gewechselt, und das war gut. Es schwappte noch dort unten im linken Stiefel.
Turid am Postschalter hielt den Brief einen Augenblick in der Hand. Wog ihn gedankenvoll hin und her. Dann legte sie ihn energisch auf die abgegriffene Holzplatte auf Toras Seite von der Schranke zurück und sagte: »Zu schwer. Zu wenig Porto.«
Tora war ein nasser und geprügelter Hund, als sie zur Tür hinausschlich.
Aber auf der Treppe richtete sie sich auf, eilte über die Hügel und an den Mooren entlang zum Tausendheim.
Sie zögerte nicht. Sondern wiederholte die Aktion mit der Geldschachtel. Diesmal nahm sie so viel, dass es auf jeden Fall reichen musste. Dann raste sie die Treppen hinunter, die Wege entlang, die Hügel hinunter und hinein zu Turid am Schalter.
Wie ein Esel. Sie hatte Runzeln zwischen den Augenbrauen. Der Kopf war auf eine seltsam störrische Weise gebeugt, das Maul dicht an der Halsgrube – als ob sie versuchte, sich selbst voranzutreiben. Turid leckte an der Briefmarke und stempelte sie dann ab. Tora ging hinaus in den Regen.
Sie blieb einen Augenblick auf der Treppe stehen und wartete, bis der Schweiß an ihrem Rückgrat sich beruhigte. Fischerboote kamen herein. Sie tuckerten wie Herzen. Wie ihr Herz. Es gab keinen Unterschied. Tuck-tuck-tuck. Im Takt. Ganz selbstverständlich. Lebendig. Trieb sich selbst voran mit seinem eigenen Motor.
Eines Tages schnappte Sol in Ottars Laden große Neuigkeiten auf. Nach Neujahr sollte ein Handelsschulkurs beginnen. Da wollte sie hingegen! Mit der Mutter wollte sie nicht darüber sprechen. Sondern einfach hingehen.
Sol hatte die Erfahrung gemacht, dass man sehr schnell Geld verdienen konnte. Sie hatte es unter der Matratze. Dort lag es sicher. Denn Elisif gehörte nicht zu denen, die die Matratzen zu unpassender Zeit herausrissen, um sie zu lüften. Sol wusste, dass sie die Summe noch beträchtlich vermehren könnte. Alles Geld, das sie fürs Putzen bei Ottar und fürs Packen in der Fischfabrik bekam, gab sie zu Hause ab. Sie sortierte jeden Monat die dringendsten Rechnungen aus. Dann traf sie eine Auswahl, und zusammen mit Vaters Geld reichte es für das Allernotwendigste. Aber immer wieder gab es irgendwelche Löcher. Torstein quetschte sich ein paar Tränen heraus, weil sie Geld beisteuerte, und nannte sie ein prima Mädchen. Er hätte sagen können, dass bald bessere Zeiten kommen würden und dass sie dann etwas von ihrem nächsten Verdienst behalten dürfe. Aber das sagte er nicht. Torstein sagte nichts, woran er nicht glaubte. Deshalb war er ein so wortkarger Mann.
Es fing an einem ganz gewöhnlichen Tag nach Ladenschluss an. Sol war draußen im Lager auf die Leiter gestiegen, um ein paar Kartons an ihren Platz zu schieben, weil sie Angst hatte, dass sie ihr auf den Kopf fallen könnten. Sie sah Ottar neben der Leiter stehen, aber nahm keine Notiz von ihm. Bis sie seine Hand an ihrer Wade spürte. Sie erstarrte. Mehr aus Erstaunen als aus Abscheu. Er war bestimmt schon über dreißig. Fasste es als eine Ermutigung auf, dass sie stehen blieb. Die Hand bewegte sich erst zögernd. Dann hatte sie ihr Knie erreicht, kam aber nicht weiter, weil die Hand einfach nicht weiter reichte. Es war keineswegs unangenehm. Sol begriff. Da gab es vage Dinge, an die sie sich erinnerte. Dinge, die aus den Treppenaufgängen bis zu ihr gedrungen waren. Dinge über Ottar. Dinge über Männer.
Sol stieg vorsichtig eine Stufe tiefer. Aus Neugierde. Es war aber auch nicht unangenehm. Sie sah ihn nicht und spürte auch nicht seinen Atem. Spürte nur seine Hand. Sie verschaffte ihm mehr Platz, indem sie das eine Bein eine Stufe höher stellte. Hörte, wie er keuchte, trotzdem ging der Mann sie nichts an. Sie fühlte sich nicht bedroht. Sie hätte von der Leiter heruntersteigen, sich umdrehen und ihn auslachen können. Sie hätte ihm sogar drohen können. Ja! Denn davor hatte er Angst. Er hatte Todesangst. Und Sol stieg mehrmals in der Woche nach Ladenschluss in dem dunklen Lager auf die Leiter. Manchmal wünschte sie sich, er würde schnell fertig damit, was er da machte, denn sie wusste, dass zu Hause die Wäsche auf sie wartete.
Aber manchmal stand sie auch auf der Leiter und fand es sehr schön, dass jemand sie mit so behutsamen Händen anfasste. Dann war sie beinahe enttäuscht, wenn sie an seinem Atem hörte, dass das Ganze vorüber war und sie herunterklettern konnte.
Er sah sie nicht an, wenn er ihr das Geld gab. Er reichte ihr alles zusammen in einem Umschlag. Mehr als doppelt so viel, als ihr eigentlich zustand. Ottar war nett … Sie ging über die Hügel bis hinauf auf die Anhöhe und wieder hinunter zum Tausendheim, mit einem neu entbrannten, aber unklaren Willen in sich – während sie an das Geld dachte und daran, wie nett Ottar war. Sie hatte nicht geknickst, als sie das Geld entgegennahm. Sie war ja jetzt erwachsen. War sich bewusst, dass sie Selbstvertrauen haben konnte. Sie wusste etwas über Ottar. Das machte sie älter als ihn. Davon kam er niemals los. Und Ottar wusste das. Er brachte seine Haare in Ordnung und begab sich nach Ladenschluss in das dunkle Lager. Er war ein Mann, der seine einsamen, verborgenen Wege ging, und er hatte genügend Geld, um seine Spuren zu verwischen.
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