Ich fühlte mich tatsächlich wie ein Hund, der von seinem Herrchen im Stich gelassen wurde. „Das stimmt“, schniefte ich vernehmlich. Ich fühlte mich schlimmer als ein Hund, ich fühlte mich wie eine Versagerin.
„Und jetzt gehen wir shoppen.“ Esme lehnte sich zurück und winkte der Bedienung. „Die Getränke gehen auf mich.“
„Ich muss zurück ins Büro.“
„Sag deiner Nesrin, dass du dir einen Magen-Darm-Virus eingefangen hast.“
„Das glaubt sie mir nie.“
„Dann sag, dass du ihr Winter überlässt.“
Ich nickte. Ja, so könnte es funktionieren.
Benita und Benjamin. In der Pubertät hatte ich mich oft gefragt, ob unsere Eltern für uns eine Zukunft als Varietékünstler geplant hatten. Benjamin hatte nie etwas gegen seinen Namen gehabt. Es war für ihn in Ordnung, Ben gerufen zu werden, oder Benni. Mir blieben die Spitznamen Ben-zwei, Benitalein, Die-Schwester-von-Ben.
Ben war ein guter Bruder, einer, den jede Schwester sich wünscht: beschützend, verständnisvoll, loyal. Und – und das war wohl der ausschlaggebende Punkt, ihn für immer lieb zu haben –, er verteidigte mich vor unseren Eltern, als ich mit vierzehn beschloss, mich Bille rufen zu lassen. Ich hatte den Namen Benita bis dahin abgrundtief hassen gelernt.
Unsere Mutter Jette hatte – natürlich – dagegen protestiert. Sie hatte den Namen Benita für mich ausgesucht, und Bastian, unser Vater, hatte sich – bestimmt wieder – herausgehalten. Wie sonst auch wird er sich an seine Zeitung geklammert haben, so dass die Namensgebung wie eine kurzzeitige Funkstörung an ihm vorbeigerauscht war.
Ben und ich saßen in meinem alten Kinderzimmer, das ich weder aus- noch umgeräumt hatte, seitdem ich wieder ins Elternhaus gezogen war, weil mir die Lust dazu fehlte. Oder die Zeit. Oder beides. Ben kauerte lässig mir gegenüber und sah mich mit großen Augen an. Er wartete, dass ich eine kluge Bemerkung machte, auf die er dann eine ebenso kluge Antwort geben würde. Er liebte es, geistreich zu flachsen. Wir beide liebten das Wort, er redete gern, ich las gern. So war ich Literaturwissenschaftlerin geworden und nach dem Carlo-Desaster bei einem Verlag als Lektorin gestrandet. Er dagegen schmiss sein Maschinenbaustudium, ging zur Börse und machte einen Haufen Kohle. Natürlich hätte er meine Schulden mit einem Klacks begleichen können. Mein Bruder schwamm im Geld. Er hatte eine Wohnung in London (mit Freundin), eine in New York (mit Freundin), eine in Hamburg (leider auch mit Freundin, daher konnte ich nicht einfach so bei ihm wohnen, was ich gerne getan hätte). Ich liebte seine Wohnung. Sie war funktional. Kalt, wie eben eine Designerwohnung war, die von einer Designerinnenarchitektin eingerichtet worden war (eine Ex), aber eben mit allem ausgestattet, was das Leben lebenswert machte: einem Whirlpool und der unersetzlichen Espressomaschine, die hervorragenden Latte macchiato machen konnte. Und er hatte meinen Eltern das Haus bezahlt, das sie nach unserer Versetzung auf das Gymnasium erworben und sich dann auch gleich mit dem Kredit verhoben hatten. Wunderbar, wenn man einen Sohn hatte, der gut mit Zahlen konnte. Oder einen Bruder, der einem zur Seite stand, wenn man ihn brauchte. Meine Schulden hätte er jetzt, wo er so etwas wie ein Millionär war, mit links tilgen können, aber ich wollte es nicht. Mein Stolz verbat es mir. Ich wollte es allein schaffen. Wenigstens den Rest, den ich noch zu tilgen hatte, das waren knapp über zwanzigtausend Euro.
„Was ist los, Ben, die zweite?“, fragte er mich, seine Schwester, die, die nach ihm auf die Welt gekommen war, wenn auch nur Minuten später.
Ich lächelte müde. „Hast du jemals darüber nachgedacht, im Varieté aufzutreten?“
Er lachte auf. „Die Börse ist auch ein verrückter Zirkus.“ Er sah auf sein Smartphone und checkte kurz Dax und Dow Jones.
„Eine neue Freundin?“, fragte ich möglichst unschuldig. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Nervosität mit einer neuen Frau zu tun hatte. „Irgendwann wirst du mit deinen Parallelwelten auf die Nase fallen. Irgendwann wird die eine der anderen begegnen, und wie willst du dich dann herausreden?“
Er sah mich lächelnd an. „Gar nicht. Sie wissen voneinander.“
Ich hob die Augenbrauen. „Und sind dir nicht böse?“
„Bille-Maus“, sagte Ben herablassend, und auch wenn ich meinem Bruder von Herzen zugetan war, diese Attitüde machte mich wahnsinnig. „Sie lieben mich. So wie du und Mam.“
„Klasse, dass du mich schon auf eine Stufe mit Mama stellst.“ Ich sah ihm dabei zu, wie er auf die Tastatur seines Gerätes drosch, und wunderte mich, wie er es schaffte, sich nie zu vertippen. „Was ist? Fallen deine Kartoffelpreise?“
„Ich habe in einen Mikrofinanzfond investiert und schaue mir gerade die Zahlen an.“
„Ist das gut?“
Er nickte. „Auf jeden Fall. Es wirft nicht viel ab, aber es ist eine gute Idee, Kleinunternehmer in den Drittweltländern zu unterstützen, und das tue ich hiermit.“
Nachdem er alle Zahlen gecheckt hatte, legte er das Smartphone beiseite und sah mich direkt an. Sein Blick war ernst, und ich wusste, dass er in meinen Gedanken zu lesen versuchte.
„Du steckst wieder in Schwierigkeiten“, stellte er folgerichtig fest.
„So würde ich das nicht nennen“, wand ich mich und wäre am liebsten unter meine Decke gekrochen.
Wir saßen auf meinem Bett, das noch das bequemste Möbelstück im Zimmer war. Schon früher haben wir oft auf unseren Betten gesessen und bis tief in die Nacht über Solschenizyn, Thomas Mann und wie man am schnellsten ein Mädchen rumkriegt, diskutiert. Ich sehnte diese Zeiten zurück. Ben war einfach zu wenig zu Hause, als dass man ihn noch zur Familie gehörig empfand. Er war eher zu einem durchreisenden Zugvogel geworden. Er blieb nicht lange genug, als dass man sich wieder an ihn gewöhnen konnte, und wenn er ging, hinterließ er eine unbestimmte Form von Sehnsucht. Bei mir wie auch bei unserer Mutter.
„Ich habe einen neuen Vorgesetzten, der mir das Leben zur Hölle macht.“ Ich wusste, dass ich übertrieb. Niemand machte mir das Leben zur Hölle außer ich selbst. Ich hätte Damian Winter auch weniger Beachtung schenken können. Ihn wie Weber behandeln können. Aber Weber und Winter waren, abgesehen von den gleichen Initialen, so unterschiedlich wie die Farben Rot und Grün. Es gab noch mehr Unterschiede zwischen den Männern, Weber war nicht sonderlich attraktiv und alt wie Methusalem. Damian Winter führte mir dagegen jeden Tag vor Augen, was es hieß, ein lebendiges Wesen zu sein, das irgendwann einmal Sex gehabt hatte. Ich konnte mich an den Sex mit Carlo nicht mehr erinnern. Aber daran, dass es etwas gab, das einem den Puls hochschnellen ließ, durchaus. Winter ließ meinen Puls hochschnellen.
Ben nickte verständnisvoll. „Du hast dich in ihn verknallt.“
„Ach Quatsch!“, murmelte ich. „Ich hasse Männer.“
Ben bleckte grinsend die Zähne. „Oh ja, so gut sieht er also aus.“
Ich blitzte ihn böse an.
„Du redest von einem Mann, der dir die Knie schlottern lässt. Und? Ist er denn auch an dir interessiert?“
„Du Schwachkopf, ich bin es, die nicht interessiert ist. Schau mich doch an. Ich sehe so durchschnittlich aus, wie man nur aussehen kann.“
Ich versuchte, Esmes Worte vom Vormittag aus dem Kopf zu bekommen. Würde sie mich jetzt hören, wie ich auch bei Ben nach Komplimenten fischte, würde sie mich überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Aber ich brauchte diese doppelte Zusicherung – die von Esme und Ben. Ich war so unglaublich bedürftig und musste einfach sicher gehen, dass ich von den zwei Menschen, die ich am meisten liebte, mit allen meinen Fehlern und Unzulänglichkeiten akzeptiert wurde. Nicht nur das: Ich brauchte diese Bestätigung, dass ich trotzdem in Ordnung war.
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