Stark nickte.
»Richtig. Hier im Laster oder dort vorne? Da scheint ein Gehöft zu sein.«
Sandra sah die Kinder abschätzend an.
»Schafft ihr es bis dahin zu Fuß?«
Die Kinder nickten. Sandra wandte sich wieder an Stark.
»Was ist eigentlich in den Kisten da hinten drin?«
»Soweit ich sehen konnte, nur Munition.«
Sandra ging an das hintere Ende des Wagens und stieg auf die Ladefläche. Ja, es waren Munitionskisten. Aber der Aufschrift nach nur für automatische Waffen. Sie wollte gerade wieder aussteigen, als sie eine kleinere Kiste entdeckte. Sie öffnete sie und seufzte erleichtert auf. Es war eine Kiste mit eintausendfünfhundert Schuss 9 mm Parabellum. Passend für ihre P6. Neben den Schachteln mit den Patronen lagen noch zehn leere Ersatzmagazine und zwei Waffenpflegesets in der Kiste. Ein Schatz, den sie in ihrer derzeitigen Lage nicht erwartet hätte.
»Und?«, fragte Stark von der Laderampe aus. »Hast du was gefunden?«
»Ja. Helfen Sie mir bitte, Vater. Diese kleine Kiste ist sauschwer, aber ungeheuer wertvoll.«
Stark stieg auf die Ladefläche und runzelte die Stirn, als er den Inhalt der Kiste sah.
»Bist du sicher, dass du diese Munition verwenden kannst?«
Ein bitteres Lächeln tanzte um Sandras Mundwinkel.
»Sie kannten meinen Vater. Statt Mickey Mouse oder Donald Duck habe ich Waffen- und Militärmagazine lesen dürfen. Glauben Sie mir, wenn ich ihnen sage, das hier ist Gold wert.«
Stark schluckte, sagte aber nichts. Gemeinsam hoben sie die Kiste aus dem Wagen. Dann stieg Sandra wieder auf die Ladefläche. Sie suchte im Halbdunkel und fand schließlich ein sogenanntes Tactical Medi-Pack. Es war eines von denen, die sowohl beim Militär, als auch bei Outdoorfreaks Verwendung fanden. Sandra trug die schwarze Tasche nach draußen und durchsuchte sie. Reichlich Antibiotika in Autoinjektoren, Morphin, Verbandszeug.
»Wir müssen die Munition auf uns beide verteilen, Vater. Die Kids sehen nicht so aus, als könnten sie viel tragen. Ich werde die Reservemagazine aufmunitionieren und einstecken.«
»Du rechnest mit allem, richtig?«
Sandra sah auf. Stark zuckte unter ihrem Blick zusammen. Sie sah ihrem Vater plötzlich so ähnlich. Da war die gleiche Wut, die gleiche berechnende Kälte in ihren Augen.
»Vater, ich habe vor weniger als einer Stunde einen Menschen in den sicheren Tod gehen lassen, damit ich diese Kinder vor all dem Wahnsinn hier beschützen kann, den Ihr Boss da oben auf uns losgelassen hat.«
Sie öffnete eine Schachtel mit Patronen, und lud ohne hinzusehen das Erste der Reservemagazine. »Und ich werde sie beschützen. Koste es, was es wolle. Wenn das also bedeutet, dass ich töten muss, dann ist es eben so.«
»Ich meinte ja nur …«
»Was?«, fuhr ihm Sandra ins Wort. »Dass es für eine junge Frau unangemessen ist, die Führung über eine Gruppe Pilger zu übernehmen, die nach einem sicheren Ort suchen? Unangemessen für eine Frau, die ihren Körper für Erwachsenenfilme hergegeben hat? Eine Frau, die nicht einfach nur in Sünde lebte, sondern sie tagtäglich ausgelebt hat? Sind wir denn überhaupt Pilger, oh mein heiliger Vater, oder sind wir einfach nur Menschen, die versuchen zu überleben?«
Stark seufzte.
»Und wohin sollen wir gehen?«
»Nach Südwesten, Vater.«
»Warum das?«
»Weil da ein Fliegerhorst der Bundeswehr ist. Von irgendwoher müssen die Jagdbomber ja wohl gekommen sein, oder?«
Stark sah sie schweigend an. Dann nickte er. Sandras Argumente waren gut. Ja, sie waren Pilger in einer von Gott verlassenen Welt. Und sie waren Überlebende einer Katastrophe von unvorstellbaren Ausmaßen.
Er traf einen Entschluss.
»Die Kinder sollten erst etwas essen und trinken, bevor wir uns auf den Weg machen.«
Er wandte sich ab.
Sandra hatte sich soeben zur Anführerin einer Gruppe Überlebender in dieser Welt des Grauens gemacht.
Gut.
Wenn sie die weltliche Führung über die Überlebenden übernahm, dann würde er die geistliche übernehmen müssen.
Und ihr Weg würde zu seinem ganz persönlichen Jakobsweg werden, von dem er hoffte, auf ihm seinen Glauben an Gott wiederzufinden.
Kapitel XII - Der dunkle Nomade
Frank sah sich orientierungslos um.
Wo war er?
Wie war er hierhin gekommen?
Um ihn herum herrschte die totale Verwüstung. Geschmolzenes Glas glitzerte wie Miniaturgletscher auf welligem Asphalt. Die Luft schmeckte nach ätzenden Dämpfen, über allem lag der schwere Geruch von Rauch. Schwarze Hausruinen blickten aus Fenstern, die leeren Augenhöhlen glichen, auf ihn herab. Mit zitternden Beinen folgte er dem, was einst eine Straße gewesen musste.
Plötzlich blieb er stehen.
Er erkannte diesen Ort.
Das war die Aachener Straße.
Hier wollte er sich mit jemandem treffen. Jemandem, der sehr wichtig für ihn war. In seiner Erinnerung blitzte das Bild roter Haare auf, die im Sonnenuntergang wie flüssiges Feuer ein blasses Gesicht umflossen. Katzengrüne Augen, die ihn polierten Jadesteinen gleich anfunkelten.
Ein Name stieg zu diesem Bild in seinem Geist auf.
Sandra.
Hier wollte er Sandra treffen, wer immer das auch war.
»Tja, mein Freund«, erklang hinter ihm eine freundliche Stimme. »Scheinbar hat sie dich versetzt.«
Frank wollte herumwirbeln, aber es wurde nur ein unbeholfenes Wanken daraus. Ein Mann stand da. Groß und hager, in einen teuer aussehenden, dunklen Anzug gekleidet. Aus der Westentasche seines Anzugs hing eine Kette heraus.
Eine Taschenuhr?
Frank sah genauer hin. Eigentlich sah der Mann gar nicht wie ein Mann aus. Er hatte etwas weibliches an sich, das seine Stimme Lügen strafte.
»Und wenn ich es recht bedenke, kann ich es ihr auch nicht im Geringsten verübeln.«
Wie von Zauberhand erschien ein Spiegel in der Hand des merkwürdigen Mannes. Er ging auf Frank zu und hielt den Spiegel so vor sich, wie ein Geisterjäger ein Kreuz einem Vampir vor das bleiche Gesicht halten mochte. Mit einem Aufschrei torkelte Frank zurück.
Eine blutige Masse aus rohem Fleisch sah ihm aus dem Spiegel entgegen. Die Nase ein dunkles Loch in einem unruhigen, blasenübersäten Meer aus roter Masse, die Augen zwei eiskalt funkelnde Seen ohne Lider.
Ein Monstrum!
Aus ihm war ein Monstrum geworden!
Frank ließ sich weinend auf die Knie fallen, bedeckte sein Gesicht mit den Händen, wollte nichts mehr sehen, nichts mehr spüren.
»Du Dummerchen«, sagte der merkwürdige Mann mit einer Stimme, in der boshafte Belustigung mitschwang. »Du kannst gar keine Schmerzen verspüren. Merkst du das nicht?«
Frank horchte in sich hinein. Doch, da war Schmerz. Aber er war nicht körperlich. Er lag viel tiefer.
»Ah, siehst du? Jetzt nähern wir uns dem Kern der Sache.«
Eine Hand legte sich tröstend auf Franks Schulter. Er nahm seine Hände vom Gesicht und sah auf. Der Mann hielt ihm mit spitzen Fingern und angewidertem Gesicht ein dunkles Tuch hin.
»Bedecke damit dein Antlitz, mein Freund. Mach es wie die Nomaden der Wüste. Damit ersparst du deiner Umwelt ... nun ... es wäre schicklicher, wenn du verstehst, was ich meine.«
Frank nahm das Tuch und tat, was der Fremde von ihm erwartete. Er spürte tatsächlich nichts, als der Stoff sein wundes Fleisch berührte. Nur den Schmerz der Scham und des Verlustes, der in ihm bohrte und nagte. Was würde Sandra sagen, wenn sie ihn so sehen könnte?
»Spürst du außer diesem kindischen Schmerz, den ihr so poetisch Liebeskummer nennt, denn nicht noch etwas anderes? Da unten, da ganz tief in dir drin? Dort, wo ihr Menschen all das Dunkle gut verschlossen aufbewahrt, das ihr in dem Miteinander, das ihr so hochtrabend als Zivilisation bezeichnet, niemals offen zeigt? Diese natürliche Wut und die Gier nach Macht und Anerkennung, die ihr lieber vor eurem Nächsten versteckt haltet?«
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