Gudrun Fritsch - Ich wird fällig
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Titelseite
Gudrun Fritsch
Ich wird fällig
Geschichten zwischen
Gedachtem und Erlebtem
Leykam
Meiner Familie gewidmet und all den Liebhabern von Handschrift in Briefen
„Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt. Manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.“ (Matthias Brandt)
„Niemand haben wir dankbarer zu sein als jenen, die in einer unmenschlichen Zeit (…) das Menschliche in uns bestärken, die uns mahnen, das Einzige und Unverlierbare, das wir besitzen, unser innerstes Ich, nicht preiszugeben.“ (Stefan Zweig)
Ich wird fällig – oder: Ich schreib mir deinen Liebesbrief
Das Ich ist ein reales Ich, gebrandmarkt und weidwund, aber bereit, heil zu werden; es wurzelt in der Wirklichkeit der Gegenwart, es atmet, es lebt. Und es zitiert Shakespeare: „Gebt eurem Schmerz Worte: ein stummer Schmerz presst seine Klagen in das Herz zurück und macht es brechen.“ (Macbeth, 6. Szene, 4. Aufzug)
Eben. Und Ich ist nun dabei, sich seine eigene Geschichte zu erschaffen und dort das Fehlende hinzuzufügen, so eine Art „So-soll-es sein-Geschichte“ (ich bekomme endlich den Brief, den ich mir seit Jahren wünsche, zum Geburtstag, zu Weihnachten, zum Hochzeitstag), in der sich schlussendlich das erfüllt, was das Leben in seiner grenzenlosen Schlampigkeit vergessen hat oder was im Trott des Alltags unter den Tisch gefallen ist. Klong. Und noch immer dort liegt. Eben.
Also. Spätestens nach vierzig ist das Ich so was von fällig, fast schon überfällig, möchte man sagen, höchste Zeit, dass es sich reinigt von alten Krusten und hinderlichen Panzerungen und sämtlichen altlastigen Verheerungen innen und außen. Höchste Zeit, sich bereit zu machen für eine lebenslange gute Freundschaft zum innersten Selbst.
Also, ich werde mir in deinem Liebesbrief das schreiben, was ich hören/lesen will, und damit ein der menschlichen Natur unausrottbar inhärentes Ziel erreichen, nämlich mich gewürdigt zu wissen, wie es mir aus meiner Sicht zusteht. Daher werde ich dir ordentlich was einflüstern. Und ich lasse dich mit Dichterzunge sprechen, manchmal, vielleicht, von Zeit zu Zeit. Wir werden sehen.
Du könntest zum Beispiel so beginnen:
Liebstes,
wie sollte ich dich anders nennen, denn nie bist du mir etwas anderes gewesen als eben das Liebste, der umfassendste vorstellbare Superlativ.
Georges Moustaki spielt mir im Hintergrund Töne und Gedanken zu; auch davon, dass es zu spät sei, singt er in seinem unverkennbar melancholischen Timbre, und man niemals allein sei mit der eigenen Einsamkeit, die einen treu wie ein Schatten begleitet. Oft, zu oft, war sie, Liebstes, dein einziger Begleiter. Ich weiß es, jetzt erkenne ich es und wünsche, dass dies Erkennen nicht zu spät ist. Zu spät? Aber nein, es gibt doch noch so viel Zeit …
Dein Libellengewand, Liebstes, fällt mir ein, das dir irgendwann zugewachsen ist wie eine zweite Haut, der unendliche Farbreigen auf den silbrigen Schimmerflügeln, die, vom Licht und der Sonne benetzt, in der Luft glänzen und locken, fiebrig zitternd und aufgeladen. Dein Libellengewand, Liebstes, ich habe es angeschaut, aber nicht gesehen, ich habe es wahrgenommen, aber nicht erkannt. Ich hätte es hätscheln sollen wie ein seltenes Kleinod, statt es, wie so oft, zur Alltagsgarderobe in den Schrank zu hängen. Verzeih.
Nun, Liebstes, ich fühle die Zeit reif für eine
Rückschau, die ich dir zu schulden meine. Gut durchwachsen soll sie sein wie abgelegener Speck.
Ich will mich weit zurückgraben in den Erinnerungstunnel, aber ungewollt stoße ich sogleich an die jüngste Vergangenheit.
Ein Montag, spätabends, kaum alltagsverseucht, weil noch vom Wochenende durchwirkt, an der Treppe unten stand ich, und du kamst heim, mit Mantel und Tasche und duftendem Haar, und nahmst mich in deinen Arm. Wie ein Geschenk hast du mich betrachtet, das kostbar ist und zerbrechlich, und dann mein Gesicht betastet, mit feingliedrigem Atem meine Augenlider geküsst, als sei es das erste und letzte Mal zugleich.
Schau, wie ich mich verliere in dem Schönen und schon jetzt den roten Faden verliere, den ich nicht einmal noch richtig aufgenommen habe … Verflixt! Aber zum Teufel mit der linearen Stringenz, ich lasse die Gedanken strömen und schreibe auf, was sich ans Ufer schwemmt …
Vor fünfzehn Jahren, als sich unsre Lebensläufe verbanden, begann auch das Ringen um eine Lebensplanung – um die Wichtigkeit von Besitz und Statussymbolen, den Stellenwert von Prestige- und Karrieredenken, von Kunst und Freigeistigkeit, von Revolution, Evolution und Involution (das mit dem „Innen“ war von Anfang an deines).
Du hast den Schöpfergeist zur Erschaffung des Immateriellen in dir, ich wiederum erwies mich als Schöpfer des Materiellen. Und ich weiß es jetzt:
Nur deinem angeborenen oder eigens kultivierten Widerstandstrotz verdanktest du hingegen dein (Über)Leben. Denn: Für das Andere, das Durchwirkte, Feinmaschige, Oszillierende, das Flimmernde am Saum der Seele gab es für viele, zu viele, unendlich viele Jahre keinen Platz; unsere Schnittmenge lag bei null. Aber: Mitten im tiefsten Winter entdecktest du den unbesiegbaren Sommer in dir (frei nach Albert Camus). Das wahrgenommene Heraufleuchten deiner Ressourcen, deiner unangreifbaren inneren Schätze, sicherte dir das Überleben – bis heute. Und nicht nur fühlst du, nein, du weißt es: Nur dort, tief drinnen im innersten Wesenskern des Menschen, dem die größtmögliche Einzigartigkeit eigen ist, sind die wichtigsten und stärksten Kräfte gebündelt, die Essenz individuellen Lebens – und dessen Transzendenz. Kunst, die mit diesen Kräften arbeitet, freilegt, schabt, reibt, berührt, verändert, entwickelt, ist existenziell. (Ich bin versucht, pathetisch hinzuzufügen: … und groß und wahr und unvergänglich/zeitlos.)
Und jetzt erst, verzeih, weiß ich es wirklich. Du bist durch eine Hölle, deine Hölle, gegangen, als du plötzlich mit dem Grundkauf und anschließenden Hausbau in eine Art von Leben gezwungen warst, die du dir niemals gewählt hättest. Die Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein zermürbten dich, aber am schlimmsten war die Tatsache, dass fast alles anders verlief als geplant und abgesprochen; und dazu noch mein verantwortungsvoller Führungsjob und die vielen zu realisierenden Projekte daneben mitsamt ihrem unersättlichen Ressourcenbedarf an Zeit und Geld und persönlichem Einsatz. Ich habe dich und vor allem unseren Jüngsten, der noch klein und biegsam war, alleingelassen, kaum vorsätzlich, da bin ich mir sicher, aber aus Unbesonnenheit, angetrieben von einem plötzlich eindimensionalen Denken und Handeln, dem ausschließlich die Anhäufung von Gütern wichtig war. Und ich habe dich dadurch – fast – verloren.
Die vergangenen Monate haben nun endlich den anderen, den entbehrten Reichtum in unser Leben gebracht, sodass du es hoffentlich nicht bereust, geblieben zu sein.
Ja, und noch etwas: Dein – noch immer – mädchenhafter Charme, der blitzende Scharfsinn in deinen Augen, dein warmer, weicher Körper, in dem eine Seele wohnt, voll Innigkeit und Tiefe, die zulässt und mitklingt, wenn die großen Töne klingen. – Sapperlot! Schon wieder der stringenten Ausführung abgeschworen und mich im Schwärmerischen verhakt. Aber du magst es –
sehr –, ich weiß es, ich spür’s!
Die ungeheure schöpferische Energie, die in dir pocht und sich abarbeitet, isoliert und weitgehend zwiesprachelos, drängt dich vorwärts, drängt aus dir heraus, im Alleinsein, in der Stille, ja, da am besten, aber einzelne der aufgeladenen Partikel suchen nach Verbindung, Ergänzung, Befruchtung, Umformung, Verwandlung … Ich weiß es, ich spür’s!
Das „Verortetsein“, für lange Jahre der Geborgenheit für die Kinder – vermeintlich – geschuldet, ist nun das Bollwerk gegen die „Schwingenlust“ deiner Libellenflügel; und manches Mal fürchte ich, dass deine Lust am Flügelschlag langsam erlahmt und es porös wird, dein Libellengewand, und sich auflöst …
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