In Sutras, Kommentaren oder Dharma-Vorträgen können wir keine Einsicht finden. Befreiung und erwachtes Verstehen sind nicht durch das Studium buddhistischer Schriften zu erlangen. Das wäre wie die Hoffnung, frisches Wasser in trockenen Knochen zu entdecken. Doch kehren wir zum gegenwärtigen Moment zurück, benutzen wir unseren klaren Geist, der hier und jetzt existiert, dann ist es uns möglich, mit Befreiung und Erleuchtung in Berührung zu sein, ebenso wie mit dem Buddha und all seinen Schülerinnen und Schülern als lebendigen Wirklichkeiten genau in diesem Augenblick.
Ein Mensch, für den es nichts zu tun gibt, ist Meister seiner selbst. Er braucht sich nicht aufzuspielen oder irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Der wahre Mensch ist ein aktiv teilnehmender Mensch, in seinem Umfeld engagiert, doch ohne sich davon bedrücken zu lassen. Alle Phänomene durchlaufen die verschiedenen Erscheinungsformen von Geburt, Verbleiben, Wandel und Tod, und doch ist der wahre Mensch kein Opfer von Traurigkeit, Glück, Liebe oder Hass. Er lebt voller Gewahrsein als ein ganz normaler Mensch, ob er nun steht, geht, liegt oder sitzt. Er spielt keine Rolle, auch nicht die Rolle eines großen Zen-Meisters. Das meint Meister Linji mit seinen Worten: »Seid unabhängig, wo immer ihr seid, und nutzt diesen Ort als Sitz des Erwachens.«
Wir überlegen vielleicht: »Wenn ein Mensch keine Richtung hat, nicht bestrebt ist, ein Ideal zu erreichen und kein Ziel im Leben hat, wer wird dann den Lebewesen helfen, frei zu werden, wer wird jene retten, die im Ozean des Leidens zu ertrinken drohen?« Ein Buddha ist ein Mensch, der keine Geschäfte mehr zu erledigen hat und nach nichts mehr Ausschau hält. Indem wir nichts tun, einfach innehalten, können wir frei und uns selbst treu leben, und unsere Befreiung wird zu der Befreiung aller Wesen beitragen.
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WIE MAN DIE AUFZEICHNUNGEN DES MEISTERS LINJI LESEN SOLLTE
Meister Linji lehrte, weil er die Dinge drastisch verändern wollte. Er wollte Hindernisse zerschmettern, Krankheiten heilen und Fesseln lösen. Seine Worte zu lesen ist, als würde man eine sehr wirksame Arznei einnehmen. Die meisten von uns glauben, dass wir uns gesünder fühlen, wenn wir unseren Körper mit Vitaminen oder Stärkungsmitteln versorgen. Doch manchmal müssen wir ihn, statt ihm immer noch mehr zuzuführen, von allem reinigen. Dann brauchen wir eine ausreichende Dosis der Lehren Meister Linjis. Sie sind keine Vitamine, sie sind ein Abführmittel.
Haben wir innerlich zu viel Wissen angehäuft, können wir es nicht richtig verdauen. Auch wenn wir zu viel gegessen haben, können wir nicht verdauen und leiden an Verstopfung. Verstehen wir nicht, was wir gelernt haben, und können wir es in unserer Übung, im täglichen Leben nicht anwenden, dann blockiert das Wissen unseren Körper und unseren Geist. Aber wir müssen nicht auf die Verstopfung warten, um von Meister Linjis Lehren zu profitieren; Prävention ist besser als eine Behandlung.
Meister Linji wollte keine tiefsinnigen, wunderbaren Ideen präsentieren, die wir dann studieren und debattieren könnten. Wir kommen nicht auf der Suche nach absoluten Wahrheiten zu seinen Unterweisungen oder in der Hoffnung, schwierige Konzepte oder geheimnisvolle Ideen zu entdecken. Alle Lehren sind zuallererst Worte, bloße Bezeichnungen. Meister Linji nennt sie »leere Worte« oder »-ismus«. Sie sind keine objektiven Wirklichkeiten. Meister Linji will seine Worte nicht als goldenes Gerüst oder als zu verehrenden Jade-Kaiser verstanden wissen. Er sagt, dass seine Worte nur Skizzen im leeren Raum sind.
Der Zweck von Meister Linjis Werk liegt darin, dass es uns helfen will, unser Suchen aufzugeben und zu uns selbst in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren. Dort können wir alles finden, wonach wir suchen, sei es Buddha, vollkommenes Verstehen, Frieden oder Befreiung.
Lesen Sie als Erstes die Unterweisungen selbst, bevor Sie sich den Kommentaren und Übungen zuwenden. Beim ersten Lesen brauchen Sie keine Anleitung. So wie Sie bei Ihrem ersten Besuch in einer Ausstellung zunächst die Bilder auf sich wirken lassen, bevor Sie den Katalog studieren oder sich einer Führung anschließen. Lesen Sie Unterweisungen als Geschichten und nehmen Sie wahr, was Sie verstehen und fühlen. Lassen Sie Ihre alten Vorstellungen über einen wahren Menschen, über Buddha und die Lehren verblassen. Beim Lesen sollten wir uns einen Lehrer vorstellen, der vor uns steht und schreit: »Komm nicht zu mir auf der Suche nach etwas! Die Erleuchtung, das Glück, die Stabilität und Freiheit, die du suchst, sind bereits in dir!«
Man kann sich diese Unterweisungen vielleicht am besten als Gedichte vorstellen. Wenn wir sie anfangs nicht verstehen, ist das in Ordnung. Diese Worte sind, für sich genommen, keine Weisheit. Meister Linji bot sie als Werkzeuge an, um unser Herz zu öffnen und die Weisheit langsam eindringen zu lassen. Die Lehren sind wie eine Schaufel, mit deren Hilfe wir nach einem vergrabenen Schatz graben.
Die Aufzeichnungen des Meisters Linji bestehen aus zwei Teilen, den Zen-Gefechten und den abendlichen Vorträgen. Jene Unterweisungen, die Meister Linji morgens gab, die Zen-Gefechte, sind in der Form von Fragen und Antworten gehalten. Am Nachmittag oder Abend gab er erläuternde Unterweisungen, erklärte das Dharma und erzählte Geschichten. Ich empfehle, zuerst diese abendlichen Vorträge (10 bis 23) zu lesen, auch wenn sie hier als Zweites präsentiert werden, denn sie vermitteln grundsätzliche Vorstellungen, die eure Praxis anleiten können. Diese Unterweisungen helfen auch, die Zen-Gefechte besser zu verstehen, die oft sehr rätselhaft anmuten mögen.
Die Zen-Gefechte haben einen satirisch-spöttischen Charakter. Einer der Sprecher hat die Rolle des Lehrers, er ist »der Gastgeber«. Der andere ist der Rolle des Schülers, das ist »der Gast«. Der Gastgeber weiß, worum es geht, und der Gast kommt, um zu lernen. Manchmal tauschen sie auch die Rollen: Der Gastgeber spielt die Rolle des Gastes, der Gast die des Gastgebers. Manchmal übernehmen auch beide die Rolle des Gastes oder des Gastgebers.
Zu Zeiten Meister Linjis war es üblich, dass ein Schüler auf den Meister zutrat, ihm von Angesicht zu Angesicht eine Frage stellte und vom Meister erfuhr, ob sein Verständnis bereits gereift war. Dies erforderte einen gewissen Mut vonseiten des Schülers. Manchmal gab es einen Sieg, manchmal eine Niederlage. Manchmal führten die Gefechte zu Zerstörung; manchmal waren sowohl Gast als auch Gastgeber siegreich.
Meister Linji versuchte nicht, seine Schüler in diesen Gefechten niederzuringen; er wollte nur ihre Tendenz zu übermäßigem Denken und Rationalisieren besiegen. Für ihn war Denken nicht gleichbedeutend mit erwachtem Verstehen. Von daher dauerten die Gefechte auch nicht lang. Der Zen-Meister musste nicht über einen längeren Zeitraum sitzen und reden. Der Schüler brauchte nur ein Wort zu sagen, und der Zen-Meister kannte dessen Geist. Der Schüler musste nur einen Gedanken aufkommen lassen, und schon ging er in die falsche Richtung. Ob er verstand oder nicht verstand, entschied sich in diesem einen Moment. Ging er in die falsche Richtung und unternahm dann eine Anstrengung, war er verloren.
In der Schule bleiben wir für gewöhnlich sitzen und heben die Hand, wenn wir eine Frage stellen wollen. Wir benutzen unseren Kopf, unseren Verstand, um eine Frage zu stellen und dafür ein wenig neues Wissen zu erhalten. Doch das ist nicht Zen. Unser Ziel ist es hier nicht, Wissen über den Buddhismus zu erwerben und anzusammeln. Es geht darum, die richtige Frage zu stellen, jene Frage, die unsere inneren Hindernisse zu zerstören vermag. Wenn wir diese Frage nicht haben, ist es besser, nicht vorzutreten. Unsere Frage sollte den Schleier der Verblendung niederreißen und uns befreien können. Vielleicht kann sie unseren Lehrer und die ganze Gemeinschaft etwas lehren. Danach hält Meister Linji Ausschau, wenn er fragt: »Gibt es irgendeinen Krieger, der auf das Schlachtfeld kommen will?«
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