WTK
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DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil wir uns selbst Fragen stellen können |
Es gibt ein Dilemma, das als questio crocodilina bekannt ist, die Frage des Krokodils . Die düstere Geschichte geht so: Ein Krokodil raubt einer Mutter das Kind. Die Mutter fleht es an, ihr das Kind wiederzugeben. Das Krokodil ist einverstanden, allerdings nur unter einer Bedingung: Es will der Mutter eine Frage stellen, auf die sie eine wahre Antwort geben muss. Damit sitzt die Mutter aber in der Krokodilfalle. Denn die Fangfrage lautet: „Werde ich dir das Kind zurückgeben?“ Wenn sie mit „Ja“ antwortet, kann das Krokodil das für nicht wahr erklären. Antwortet die Mutter mit „Nein“, kann das Krokodil auch das als nicht wahr bestimmen. So oder so ist das Kind verloren. Und die Moral von der Geschichte? Es lohnt sich nicht, Krokodilen zu antworten. Im Gegenteil, von fragenden Krokodilen sollte man sich möglichst fern halten.
Hans Blumenberg war ein Philosoph mit einem Faible für abstruse Geschichten, über die er tiefsinnig reflektieren konnte. In einer davon kommt auch ein Krokodil vor: Der bekannte Archäologe Max Mallowan leitete zwischen den Weltkriegen eine Ausgrabung in Mesopotamien. In seinem Team war ein junger Ire namens Gallagher, der folgende Geschichte erzählte: Ein Onkel von ihm wurde in Burma von einem Krokodil angegriffen. Das Krokodil wurde erlegt, aber für den Onkel war es zu spät, das Tier hatte ihn schon verspeist. Der Neffe beschloss daraufhin, das Krokodil ausstopfen zu lassen und es nach Hause zur Tante, jetzt Witwe, zu schicken.
Nun legt Blumenberg mit seinen Fragen los: War diese Zusendung pietätvoll oder eher brutal? Hatte das Krokodil noch Zeit gehabt, um den Onkel zu verdauen? Wenn es damit schon fertig war, sich also gar keine Onkelreste mehr in ihm befanden, hätte man es dann überhaupt noch erschießen dürfen? Für Blumenberg stellte sich also die Frage nach der Identität des Richtung Heimat beförderten Wesens. Hatte der Neffe nun den Onkel oder ein Krokodil nach Hause geschickt? Hatte die trauernde Witwe den Mörder oder das Opfer im Haus empfangen? Statt sich vorschnell mit der Geschichte zufrieden zu geben, blieb der Philosoph lieber bei seiner Kunst, immer weiter nachzufragen. So kamen neue Möglichkeiten ins Spiel, über uns selbst und die Welt nachzudenken. Sich selbst Fragen zu stellen, die über Krokodile hinausführen, lohnt sich also sehr wohl.
MK
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DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil wir „Wow!“ sagen können |
Wenn ich den nächtlichen Sternenhimmel anschaue, hat das eine äußerst beruhigende Wirkung auf mich. Das Universum strahlt Stille aus und eine majestätische Ruhe.
Betrachtet man einen einzelnen Stern mit einem halbwegs guten Fernrohr, stellt sich das schon anders dar: Innerhalb weniger Sekunden hat sich der Stern im Blickfeld bewegt, und schnell ist er ganz aus dem Ausschnitt verschwunden, so dass man das Fernrohr korrigieren muss.
Die Erde dreht sich, mit über 1 600 Stundenkilometern. Gleichzeitig fliegt sie mit 100 000 Stundenkilometern um die Sonne. Die ganze Schöpfung, die so ruhig um uns herum erscheint, befindet sich in atemberaubender Bewegung. Die Sterne, die wir ruhig am Himmel stehen sehen, fliegen in Wahrheit mit enormem Tempo durch das Nichts des Weltalls.
Selbst wenn wir eine idyllische Naturszene betrachten, rasen dabei die Lichtwellen mit 300 000 Kilometern pro Sekunden auf die Netzhaut unserer Augen. Mit der gleichen Geschwindigkeit schwingen die Atome, unaufhörlich.
Die Schöpfung ist ein gigantisches Lebewesen. Wir sind ein Teil davon und erhalten unsere Energie aus dem großen kosmischen Tanz. Wie alle anderen tanzen wir ihn mit, aber als Einzige können wir dabei rufen: „Wow! Danke!“
WTK
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DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil die einfachen Dinge die schönsten sind |
Im Amerika des 19. Jahrhunderts lagen über die Bundesstaaten Kentucky und Maine verstreut 19 Shaker-Dörfer, deren rund 1 000 Bewohner einer Lebensphilosophie folgten, die gleichermaßen von Pragmatismus und Frömmigkeit geprägt war. Die religiöse Gemeinschaft der Shaker glaubte, dass man die vollkommene Schönheit des Himmels durch ein einfaches und reines Leben auf die Erde holen könne. In ihrer Arbeit und in ihrem Alltag spielte das Gebot der Schlichtheit eine wichtige Rolle. Schlicht sollten die Gebrauchsgegenstände sein – aber nicht hässlich. „Stelle nichts Unnötiges und Unnützes her; das Notwendige und Nützliche aber mache auch schön.“ So lautete die ästhetische Faustregel der Shaker. Unter dieser Prämisse erfanden sie die hölzerne Wäscheklammer, den Drehstuhl, die Kreissäge oder die Samentütchen. Ihre Möbel waren zeitlos schöne Stühle, Tische und Bänke, die wie alle anderen nützlichen Dinge auch von Hand mit höchster Sorgfalt hergestellt wurden.
Der Shaker-Stil verzichtet auf jedes unnötige Detail. Die Formen von Möbeln, Schachteln oder Besen werden von ihrem künftigen Zweck her entwickelt. Dieser Pragmatismus verleiht den fertigen Dingen eine große Ausstrahlungskraft. Ein Shaker-Stuhl ist so ganz und gar ein Stuhl, dass man beim Betrachten das Gefühl haben kann, noch nie einen schöneren Stuhl gesehen zu haben. Schönheit und Schlichtheit sind eins geworden, ein Grund, sich von Herzen zu freuen, wie es in einem alten Shaker-Lied heißt: „Ein Leben in Schlichtheit zu führen ist eine Gabe, frei zu sein ist eine Gabe, am richtigen Platz zu sein ist eine Gabe, und wenn wir uns am richtigen Platz befinden, werden wir Liebe und Freude erleben.“
Erklären Sie heute einen einfachen Alltagsgegenstand in Ihrer Wohnung zum Repräsentanten dieser Lebensfreude, die aus der schlichten Schönheit kommt. Wann immer Sie ihn sehen, haben Sie Grund genug, sich an das Lied der Shaker und ihre einfache Weisheit zu erinnern. Es ist ein Geschenk, einfach zu sein. Es ist ein Geschenk, frei zu sein. Es ist ein Geschenk, dort anzukommen, wo man hingehört.
MK
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DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil die Schokolade nicht verboten wurde |
Die Geschichte vom Schokoladenpapst spielt im Jahre 1569. Die Reformation in Europa war in vollem Gang, und in der katholischen Kirche herrschte Krisenstimmung. Man probierte es mit vielem, unter anderem mit der Verschärfung der Fastenregeln: kein Fleisch, kein Fisch, kein Ei. Gleichzeitig kamen spanische Nonnen in Mexiko auf die Idee, von dem eigenartigen einheimischen Gebräu Xocoatl das schaumige Fett abzuschöpfen und es mit Vanillezucker zu vermischen. Das war die Geburtsstunde der Trinkschokolade, die allen Fastenregeln entsprach, und bald darauf fanden zur Fastenzeit in der neuen Welt regelrechte Süßwarenorgien statt.
Das war den Bischöfen in Rom ein Dorn im Auge, und sie brachten das Problem vor Papst Pius V. Als man ihm ein Tässchen der umstrittenen heißen Schokolade zum Probieren kredenzte, da fand es seine Heiligkeit so grässlich, dass er es ausspuckte und verfügte: „Dies Getränk bricht das Fasten nicht.“ Pius war ein geschickter Krisenmanager, ein gefürchteter Inquisitor, der viele Bücher auf den Index setzen ließ, ein auch gegen sich selbst strenger Mann. Und ausgerechnet er wurde zum entscheidenden Wegbereiter der beispiellos erfolgreichen Schokolade – nur weil er persönlich Süßigkeiten hasste.
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