Die kleine, kräftige Frau kratzte sich verlegen mit der linken Hand den Nacken. Gleichzeitig zupfte sie mit der rechten ihr abgewetztes Leinenkleid zurecht, an dem ein Riss an der linken Schulter zwar sichtbar, jedoch sorgfältig zugenäht war.
Chaim lächelte freundlich. Er konnte Rachel gut leiden, auch wenn er ab und an über ihre mit manchem Aberglauben gespickte Gottverbundenheit schmunzeln musste. Die Länge des Bartes ihres Mannes Zacharias, dessen Haut doch so empfindlich sei, war Gegenstand langer Erörterungen gewesen. War die Anweisung aus dem zehnten Kapitel des Levitikons, den Bart nicht zu stutzen, nun ein Gebot oder ein Verbot? Und falls es ein Verbot war, wie schwer würde das Kratzen in Zacharias’ Gesicht gegenüber Gottes Willen wiegen? Rachel hatte auf einer Klärung des Sachverhaltes von höchster Stelle bestanden. So hatte diese Frage schließlich selbst den Rat beschäftigt.
Chaim unterdrückte ein Seufzen bei der Erinnerung an all die haarspalterischen Diskussionen. Insbesondere Rabbi Mosche liebte es, sich in solchen Details zu ergehen. Mit welcher Geduld sein älterer Kollege Rachel damals zugehört und alle Aspekte des Bartwuchses und Kratzens ihres Mannes beleuchtet hatte. Da war kein Zweifel: Diese stolze Frau führte ihr bescheidenes Heim nach allen Regeln der jüdischen Sitte. Nun stand sie vor ihm, ihre Haare quollen unter dem halb gelösten Kopftuch hervor, und dicke Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.
Eine Unterhaltung mit Rachel könnte lange dauern, dazu hatte Chaim jetzt wirklich weder Lust noch Zeit. Der Domdekan Raimund würde bald in die Synagoge kommen, und Chaim wollte unbedingt den Psalm studieren, den sie gerade bearbeiteten, schließlich war Raimund immer bestens vorbereitet. So antwortete er: »Nein, Rachel, jetzt ist es gerade nicht so gut. Ich muss dringend in die Synagoge.«
»Bitte, Rabbi Chaim, du musst mich anhören. Gestern Nacht ist Zacharias nicht nach Hause gekommen«, insistierte Rachel, während die kleine Orli fröhlich mit ihren Fingerchen am Bindeband des Kopftuchs ihrer Mutter spielte.
»So? Wo wollte Zacharias denn hin?«
»Er ist mit seinem Handwagen frühmorgens Richtung Guntzinheim losgezogen. Am Nachmittag wollte er aber schon zurück sein.« Rachel musste Orlis Hände festhalten, die nun kräftig an ihrem Haarband zogen. »Meister Wendel wollte ihm doch endlich das Geld für die sieben Felle geben, die er vor vier Wochen auf Vorschuss von Zachi erworben hatte. Der Schuster wollte aus dem Leder Schuhe machen und uns dann von dem Erlös bezahlen.«
»Vielleicht ist die Deichsel seines Wagens gebrochen und Zacharias musste unterwegs übernachten.«
»Es ist noch nie passiert, dass er über Nacht nicht heimgekehrt ist«, erwiderte Rachel empört.
Chaim erwog die Möglichkeiten, was geschehen sein könnte. Dass der Trödel- und Kleinwarenhändler nicht heimgekommen war, konnte Tausende von Gründen haben. Jedoch war gerade ein Jude außerhalb des Walls in Gefahr. Die Mauern der Stadt boten Schutz vor Tieren, Wegelagerern und Ausgestoßenen, besonders bei Nacht. Und neuerdings gingen Gerüchte um, dass aufgewühlte Christen sich zu Heeren zusammenrotten würden. Rachels Sorge hatte also einen guten Grund.
Aber was soll ich jetzt machen?, dachte Chaim in seiner Ungeduld. Isaak zappelte auf seinem Arm und der Kutscher war nach wie vor gefährlich am Manövrieren. Er wollte den Jungen daher nicht loslassen. Deshalb fragte er Rachel: »Hast du genug Geld bis morgen?«
Der kleine Aaron war mittlerweile aufgestanden und zog an der linken Hand seiner Mutter. Rachels Blicke wechselten zwischen dem Jungen und Chaim hin und her. Gleichzeitig versuchte sie, mit ihrer Rechten Orli zu beruhigen. »Fünf Silberschillinge hat uns Meister Wendel versprochen. Mittlerweile können wir uns nicht mal mehr Brot kaufen. Zachi war so froh, dass wir nun endlich das viele Geld erhalten würden, das uns der Schuster schuldet.«
Chaim brannte es unter den Füßen, aber er musste der armen Frau helfen. Wenn er Rachel jetzt Geld gäbe, würde er dies jedoch nur unter größten Mühen aus der Armenkasse der Gemeinde zurückbekommen. Dazu brauchte es seit Neuestem die Zustimmung des Rates. Eine reine Formsache in diesem Fall, aber die Zustimmung musste vor der Auszahlung gegeben werden. Chaim fühlte einen Groll gegen diese völlig unnötige Vorschrift in sich aufkommen, dem er nun jedoch keinen Raum geben wollte. Ach, was soll’s, dachte er. Sobald es mit Zacharias’ kleinem Geschäft wieder aufwärtsginge, würde Rachel ihm das Geld unaufgefordert zurückzahlen. Sie würde ihn daran erinnern, wenn er das Ganze längst schon wieder vergessen hätte.
Er wandte sich an den Jungen auf seinem Arm. »Isaak, du musst jetzt brav deiner Mutter folgen, versprichst du das dem Rabbi Chaim?«
Der Junge, der inzwischen an Chaims Schläfenlocken Gefallen gefunden hatte und daraus kleine Zöpfe drehte, nickte gehorsam.
Chaim ließ Isaak hinunter, holte einen Lederbeutel aus seinem Wams hervor, nahm zwei Münzen heraus und legte sie auf seine flache Hand. »Rachel, ich muss jetzt wirklich gehen. Bitte nimm die zwei Pfennige und kauf Brot und auch etwas Wurst für dich und deine Kleinen. Wahrscheinlich gibt es für alles eine ganz einfache Erklärung.«
Rachel schaute Chaim zweifelnd an, sodass der hinzufügte: »Dein Mann kommt sicher bald wohlbehalten zurück. Du darfst das Böse nicht an die Wand malen, sonst kommt es von selbst.«
Bei dem Wort Böse schreckte Rachel unvermittelt zurück. Derweil zogen sowohl Isaak als auch Aaron an Rachels Arm. Sie schaute auf die zwei Münzen in Chaims Hand. Nun fing auch noch die kleine Bela zu schreien an.
Zögernd nahm Rachel das Geld an sich. »Danke, Rabbi Chaim. Ich gebe dir alles zurück, sobald Zacharias wieder zu Hause ist und wir das Geld von Schuster Wendel erhalten haben.«
»Ist schon gut, Rachel. Das hat keine Eile.«
»Kannst du dem Parnas sagen, dass mein Mann nicht nach Hause gekommen ist?«
»Es tut mir wirklich leid, ich muss jetzt gehen. Schalom.« Mit diesen Worten ließ er Rachel und ihre vier Kinder stehen und eilte zum Eingang der Synagoge.
Dort angekommen schlug Chaim das in weiches Leder eingebundene Buch der Psalmen auf und atmete den vertrauten Geruch des kostbaren Pergaments ein. Und während er sich an den wie Perlen aufgereihten Buchstaben und den feinen Bildern erfreute, die sich wie Efeu um die hebräische Schrift rankten, verflüchtigte sich jeder Gedanke an Rachel und ihren Mann.
Mainz – Bischofspfalz, im Schlafraum des Domdekans
Es war eine hohe Kunst, sich der schwarzen Soutane der Benediktiner zu entledigen. Die weiße Kordel mit den zehn Knoten hing bereits am Haken an der Tür. Mit der Gewandtheit jahrzehntelanger Übung griff Raimund mit beiden Händen über Kreuz den schweren Stoff auf Schulterhöhe, beugte sich nach vorn, zog sich zunächst das enge Rückenteil über die Schultern und dann den weiten Rest der Kutte. Dabei vermied er jegliche Berührung des Stoffes mit dem kargen Steinboden seiner Zelle.
Nun stand er da, mit nacktem Oberkörper, nur die weiße Bruoch bedeckte seine Blöße.
Er sah an sich hinunter. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Mitbrüder hatte er seinen schlanken Körper bewahrt. Die straffe Ordnung des klösterlichen Tagesablaufes war für ihn seit jeher eine wohltuende Stütze, daher musste er die Monotonie des Mönchslebens nicht durch Sinnesfreuden kompensieren. Von dem meist reichhaltigen Klosteressen nahm er nur in Maßen. Aber am Sonntagabend beim geselligen Gespräch mit seinen Brüdern genoss er es, einen Becher Wein zu trinken. Das Kloster am Jakobsberg war allseits bekannt für seine Vinifikation, die sich der roten und weißen Reben von den Hängen der zwei großen Flüsse bediente, die in seiner Stadt zusammenfanden.
Sein Weg sollte ihn heute Mittag zur Synagoge führen. Dabei war es angeraten, unverdächtige Kleidung zu tragen. Schon aus Respekt vor jüdischen Besuchern. Denn obwohl Raimund und Rabbi Chaim für ihr Treffen die Mittagszeit ausgemacht hatten, in der kaum mit Anwesenden zu rechnen war, galt es, vorsichtig zu sein. Die Synagoge stand jederzeit allen in der Gemeinde offen, Gott war schließlich immer da. Und ebenso das Bedürfnis, mit ihm in Kontakt zu treten, hatte Chaim erklärt.
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