Was folgte, war eine Demontage. Der junge Messi, Eto'o und Henry überrannten den FC Bayern innerhalb von nur 45 Minuten, als wäre es eine Trainingseinheit. Aus der Sicht der Katalanen war es ein fußballerisches Kunstwerk. Guardiola hatte einen Spielstil entwickelt, der den Klub in neue Sphären hob. So offenbarten sich am 8. April 2009 zwei Gegensätze, die deutlicher nicht sein könnten:
Auf der einen Seite der FC Barcelona – der Champions-League-Sieger von 2006, der sich nach diesem vermeintlichen Höhepunkt noch weiter steigern konnte, indem er ein klares Konzept verfolgte und es innerhalb weniger Jahre aus dem Schatten der europäischen Spitzenteams heraus auf den Thron geschafft hatte. Die ganze Welt blickte damals auf Guardiolas Mannschaft, die den Titel dann am Ende der Saison erneut gewinnen sollte.
Auf der anderen Seite der FC Bayern, der in nur 45 Minuten vier Tore kassieren musste und dort angelangt war, wo Barcelona hergekommen war: im Schatten. Es gab kein Konzept, keine klare Strategie. Die bittere Niederlage war die Quittung für eine Kette von Fehlentscheidungen, die in München seit 2001 getroffen wurden. Jürgen Klinsmann hätte diese Talfahrt eigentlich beenden sollen. Er stand für Innovationen und neue Wege. Doch seine Veränderungen wirkten nicht. Seine Mannschaft wurde in jener Nacht geradezu vorgeführt. Dass sie am Ende »nur« mit 0:4 verlor, und das Rückspiel 1:1 ausging, lag ausschließlich daran, dass Barcelona lediglich 45 Minuten lang den Bizeps anspannen musste, um das Halbfinale zu erreichen. Trotz aller Ausfälle und der fehlenden Qualität des Kaders war das Auftreten der Mannschaft kaum zu entschuldigen.
Ein Stück weit war ich fassungslos. Aber völlig überrascht war ich nicht. Schließlich war diese Niederlage das Ergebnis jahrelanger Versäumnisse. Die ganz großen Zusammenhänge erkannte ich damals natürlich noch nicht. Erst viel später wurde mir klar, was eigentlich alles passiert war und warum es passierte. Mit meinen 13 Jahren saß ich damals nur vor dem Fernseher und fühlte mich innerlich leer. Den letzten Funken an Hoffnung, den ich zuvor noch hatte – in nur 45 Minuten wurde er brutalst erstickt. Es war keine Mannschaft zu erkennen, keine Idee, nicht mal der Wille. Jeder war auf sich gestellt. So waren die Tore für Barça nur noch eine Formsache.
Für mich war es das erste Mal, dass ich mitansehen musste, wie eine Mannschaft den FC Bayern derart deklassiert. Selbst die hohe Niederlage gegen den VfL Wolfsburg kurz zuvor konnte man damit nicht vergleichen. Auch die Reaktionen im Klub waren deutlich. Klinsmanns Aus war quasi schon entschieden, auch wenn die Reißleine erst einige Zeit später gezogen wurde.
Noch am Abend des Spiels formulierte es Karl-Heinz Rummenigge auf dem traditionellen Bankett sehr drastisch:
»Wir haben ohne Zweifel heute gemeinsam eine sehr bittere Stunde erlebt in Barcelona. Ich möchte da gar nicht um den heißen Brei herumreden, das war ohne Frage eine große Blamage, was wir hier heute Abend erlebt haben, (…) und wir haben eine Lektion bekommen. Eine Lektion, die weh getan hat. (…) Wir haben eine große Verpflichtung, wir sind ein stolzer Club, dieser Stolz ist heute Abend zum Teil – speziell in der ersten Halbzeit – mit Füßen getreten worden.«
Aber es war auch eine Lektion, aus der der FC Bayern seine Lehren gezogen hat. Speziell Barcelona hat dem Verein offenbart, was eine übergeordnete Strategie im modernen Fußball wert sein kann.
Strategie vs. Taktik:Strategie und Taktik sind militärische Begriffe, die heute in vielen verschiedenen Bereichen Anwendung finden. Während Strategiesich auf den großen Plan bezieht, meint Taktiksämtliche kleinen Schritte, die zur Ausführung dieses Plans und zum Erreichen der Ziele notwendig sind. Am Beispiel Barcelona: Die Katalanen hatten das Ziel, dominanten und offensiven Fußball zu spielen. Das war die Strategie. Taktische Mittel dafür waren das Positionsspiel, hohes Angriffspressing, schnelles Kurzpassspiel oder auch das Überladen einiger Spielfeldzonen – um in einem Bereich des Spielfelds eine Überzahl zu schaffen.
Die Strategie des FC Bayern war damals vor allem auf die Transferpolitik begrenzt. Ziel war es, deutsche Stars zu verpflichten und sie um die besten Spieler der Bundesliga sowie der eigenen Jugend zu ergänzen. Der Klub war der »FC Deutschland«. Eine wirkliche Idee davon, wie man Fußball spielen wollte, gab es nicht. Jeder Trainer brachte einen anderen Stil mit, jede Verpflichtung eines Spielers führte zu Veränderungen auf dem Platz. »Irgendwie wird man schon erfolgreich sein, wenn die besten Kicker der Bundesliga zusammen auf dem Platz stehen«, dachte man offenbar. »Früher hat das schließlich auch geklappt.« Aber nach dem Jahr 2001 klappte es eben nicht mehr. Die Stars wurden älter, die Talente rar, und so kam es, dass die Bayern national zwar weiterhin erfolgreich waren, international jedoch nicht mehr mithalten konnten. Der Fußball hatte sich nämlich weiterentwickelt. Im Ausland fokussierten sich Trainer zunehmend auf taktische Überlegungen, an die in Deutschland noch kaum jemand dachte. Deutschland, das Land der Tugenden, in dem Felix Magath Medizinbälle den Hügel hinaufschleppen ließ.
Spätestens im Jahr 2009 wurde dem FC Bayern klar, dass es nicht mehr genügen würde, immer nur im eigenen Dunstkreis zu bleiben. Bei der Trainersuche ging der Blick schon mal über den Tellerrand hinaus. Auch in der Spitze des Vereins sollte sich etwas verändern. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge schmiedeten offenbar langfristige Pläne. Mit Christian Nerlinger kam ein alter Bekannter zurück an die Säbener Straße, um Hoeneß zu unterstützen, ihn eines Tages vielleicht sogar zu beerben. Die Führungsetage erkannte, dass sich der Klub neu aufstellen musste.
Als Trainer sollte ein Querdenker verpflichtet werden. Bereits von Klinsmann hatte man sich erhofft, dass er die nötigen Veränderungen vorantreiben würde. Der Verein hatte ihm eine große Entscheidungsfreiheit gegeben. Es ist kein Geheimnis, dass auch Spieler wie Philipp Lahm schon zur damaligen Zeit – weit vor dem legendären Interview mit der Süddeutschen Zeitung – eine fehlende Philosophie kritisierten. Umso höher muss man dem Klub anrechnen, dass er auch nach dem Scheitern mit Klinsmann weiter auf komplett neue Impulse setzte.
Kandidaten für den Trainerposten gab es genügend. Letztlich hatte man sich zwischen zwei ganz besonderen Typen zu entscheiden: Matthias Sammer und Louis van Gaal. Sammer war als Trainer noch nicht lange aktiv, aber schon sehr erfolgreich. Mit Borussia Dortmund gewann er spektakulär die Meisterschaft, beim VfB Stuttgart holte er im Schnitt sogar noch mehr Punkte als mit dem BVB. 2006 übernahm Sammer dann den Posten des Sportdirektors beim DFB, später arbeitete er dort im Jugendbereich. Er war bekannt als Querdenker – ein Typ mit Ecken und Kanten. Bayern und Sammer sollten aber erst später zusammenfinden. Neuer Trainer wurde zunächst Louis van Gaal.
Für den FC Bayern bedeutete diese Entscheidung eine Zäsur. Sie läutete eine Ära ein, die den im europäischen Niemandsland gestrandeten Klub innerhalb weniger Jahre wieder an Spitze des Kontinents führen sollte. Denn so wie sich der Weg in die europäische Bedeutungslosigkeit schon lange vor der Nacht in Barcelona abgezeichnet hatte, so fiel auch das Triple im Jahr 2013 nicht vom Himmel.
Der FC Bayern wurde nicht zufällig Champions-League-Sieger 2013: Es war das Produkt einer Entwicklung. Die Bayern gingen einen langen Weg. Das Ziel war längst klar definiert: die Champions League zu gewinnen. Doch seit 2009 gab es nun auch eine Wegbeschreibung – einen Plan, der dem Klub helfen sollte, an die alten Tage anzuknüpfen.
Aus heutiger Perspektive darf infrage gestellt werden, wie langfristig dieser Plan wirklich durchdacht war. Doch selbst wenn auf dem Weg auch Zufälle eine große Rolle spielten, so wurden doch auch viele richtige und weitsichtige Entscheidungen getroffen.
Читать дальше