Zwar verlangen die Zehn Gebote, der Katechismus und Kants Kategorischer Imperativ, dass wir nicht lügen, täuschen, tricksen. Allerdings: Die bloße Existenz dieser Vorschriften zeigt, dass Menschen sogar in erheblichem Maße gerade dazu neigen.
Wie der Mensch, so das Tier
Täuschung ist nicht einmal ein Privileg von ausgefuchsten Betrügern, Fälschern und Schwindlern. Sie gehört zur Grundausstattung jedes Menschen; sie ist ein Ergebnis der Jahrmillionen alten Evolution. Ob es sich nun um Schwindel, Irreführung, Betrug, Fälschung, Mogelei, Lüge, Bluff, Tricks, Finten oder Fassaden handelt, etwas davon kann jeder, und es gibt niemanden, der nicht das eine oder andere schon einmal zu seinem Vorteil genutzt hätte. Machen wir uns nichts vor: Schon sechs Monate alte Babys können es. Sie täuschen gänzlich amoralisch, wenn sie bei Mami und Papi mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung erreichen wollen. Und jeder hat schon amüsiert zugeschaut, sei es im Supermarkt oder im Zug, wie so ein kleiner Fratz seine besorgten Eltern vorführt. Aber, um das Verhalten unserer Kids noch zu toppen: Selbst Tiere können täuschen, sogar solche, die nur über ein Strickleiter-Nervensystem verfügen. Wir Menschentiere sind keineswegs allein, wenn es darum geht, jemandem etwas vorzumachen.
Die Tricks unserer Kleinen: Goldköpfchen schreit, als ginge es um sein Leben. Geht es aber nicht. Allerdings: Mami soll endlich, endlich nachgeben.
Biologen und Soziobiologen haben längst nachgewiesen, dass Täuschung und Tarnung als Überlebensprinzipien auf der gesamten Stufenleiter des Lebendigen anzutreffen sind. Die Manöver dienen immer dem gleichen Zweck, irreführende Signale an andere Lebewesen zu senden, um damit Vorteile zu ergattern, sei es bei der Futterbeschaffung, der Reviernahme, bei Partnerwahl und Fortpflanzung oder bei der Flucht vor dem Fressfeind. Der Soziobiologe Robert Trivers zeigt in seinem interessanten Buch „Deceit and Self-Deception“ („Betrug und Selbstbetrug“) an überraschenden Beispielen, wie allgegenwärtig das Prinzip Täuschung waltet. Einige Proben seiner umfangreichen Sammlung sollen hier gegeben werden.
Mimikry – und was dazu gehört
Viele Tierarten besitzen Möglichkeiten der Tarnung als Grundausstattung. Daher müssen sie sich nicht ausschließlich durch bestimmte Verhaltensweisen schützen. Ihr bloßes Aussehen, ihr Fell, ihr Gefieder, macht sie in ihrer natürlichen Umwelt für den Fressfeind nahezu unsichtbar.
Jeder hat im Biologieunterricht von Chamäleons und von Mimikry gehört. Und dass wir im übertragenen Sinn manche sehr anpassungsfreudige Erwachsene als Chamäleon bezeichnen, ist hinreichend bekannt. Aber ist Ihnen auch geläufig, dass das Unsichtbarwerden – vergleichbar mit dem Effekt einer Tarnkappe in Sagen und Märchen – zu den häufigen Täuschungsmethoden gehört? Um natürlichen Feinden zu entgehen oder als Jäger nicht erkannt zu werden, haben zum Beispiel die Bewohner des ewigen Eises gerne ein weißes Fell. So der Eisbär einerseits, seine Beutetiere, die weißen Robbenbabys, andererseits; sie sind aus größerer Entfernung nicht vom Untergrund zu unterscheiden und haben dadurch eine gute Chance, dem hungrigen Bären zu entkommen. In Afrikas Savannen dagegen sind jagende Löwinnen aufgrund ihrer hellbraunen Färbung zwischen den bräunlichen Steppengräsern ihrer Jagdreviere kaum auszumachen. So können sie sich bei günstigem Wind nah an eine Gazellenherde heranschleichen und die ahnungslosen Tiere überraschen.
Geradezu Unglaubliches leisten allerdings einige Meerestiere, so etwa die Karnevalstintenfische. Sie haben kein schützendes Gehäuse, sind aber dick und schmackhaft. Neben Tintenwolken und Bissen verteidigen sie sich gegen ihre Fressfeinde mit einer raffinierten Tarnung. Je nach Gefahrensituation nehmen sie die Form einer Flunder, einer Seeschlange, eines Stachelrochens, einer Schnecke oder eines Rotfeuerfisches an. Solange sie auf Nahrungssuche am Sandboden entlanggleiten, können sie bis zu 1.000 Mal am Tag ihre Färbung dem jeweiligen Untergrund anpassen, von sandhell bis schwarz; bei Gefahr verwandeln sie sich z.B. in eine Flunder und schießen pfeilschnell davon.
Und selbstverständlich kennt auch der Homo sapiens solche Täuschungsmanöver. Der Volksmund weiß zum Beispiel von „Wölfen im Schafspelz“. Und man denke nur an die Tarnung durch Unauffälligkeit und Normalität bei den sogenannten „Schläfern“, Spionen in Wartestellung. Meist führen sie ein ganz alltägliches Leben mit einem gängigen Beruf und einer plausiblen Biografie.
Ähnliches erlebt man bei Terroristen von links und rechts, wie die kürzlich enttarnte rechte Terrorgruppe von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe erneut belegt. Jeder ihrer Nachbarn in der Zwickauer Frühlingsstraße hielt die drei Verbrecher mit den beiden Katzen für vollkommen harmlose Zeitgenossen; Diddl-Maus wurde Beate Zschäpe geradezu liebevoll genannt.
Und um die mächtigen religiösen Bewegungen nicht zu vergessen: Wer hat sich noch nie über die Undercover-Agenten Gottes geärgert, die Theologie in Psychodeutsch auflösen und in betont juvenilem Räuberzivil auftreten? Und über die christlichen Verführer, die sich im Schutz ihrer Soutanen an Kinder heranmachen? Von den als Studenten getarnten Killerkommandos islamischer Fundamentalisten, die die westliche Welt in Schrecken versetzen, gar nicht zu reden.
Täuschen – und wer das alles kann
Einige Tierarten verschaffen sich Vorteile mit angeborenen Verhaltensweisen, die zwar automatisch und stereotyp abgespult werden, also ohne bewusste Täuschungsabsicht, aber Feinde und Artgenossen erfolgreich austricksen können. Nur ein Beispiel, das Sie vielleicht noch nicht kennen: Glühwürmchen, die den angelockten Partner fressen. Paarungsbereite Glühwürmchen finden sich über die Leuchtsignale, die Männchen wie Weibchen aussenden. Das nutzen Weibchen einer nah verwandten Art zum Beutefang. Sie imitieren das Leuchtintervall der begehrten Verwandten, locken damit deren Männchen an und verspeisen die sexbereiten Tölpel unverzüglich, anstatt sich mit ihnen zu paaren.
Und noch eine unglaubliche Geschichte: Wussten Sie, dass die Raupen mancher Schmetterlingsarten gnadenlose Untermieter in einem Ameisenbau werden können? Tja, diese Raupen ziehen als Nutznießer ein, obwohl die Bauten streng bewacht werden. Wie der Trick aussieht, den sie benutzen? Ziemlich raffiniert. Jede Raupe kann sich zu einem Ball rollen und den Duft von Ameisenlarven verströmen. Und die vom Duft betörten Ameisen tragen die simulierende Raupe in den Bau. Dort imitiert sie die Laute einer Ameisenkönigin, die um Futter bettelt. Sofort wird sie gefüttert, als sei sie die echte Königin. Sie wird auch bevorzugt fortgetragen, falls dem Bau die Zerstörung droht. Ganz schön bescheuert, diese Ameisen, oder nicht?
Und der Homo sapiens ? Hat nicht die Geschichte der falschen Zarentochter Anastasia, die 1920 in Berlin auftauchte und sich als die jüngste Tochter von Zar Nikolaus II. ausgab, der Boulevardpresse viele Jahrzehnte hinreichend Stoff geliefert? Und den Historikern, Schriftstellern, Drehbuchautoren ein fabelhaftes Thema? Allein acht Filme sind dazu entstanden.
Und was war mit dem Schuster Voigt, der sich in Potsdam eine Uniform kaufte und als Hauptmann von Köpenick unsterblich wurde? Aus diesem Täuschungsmanöver sind hervorgegangen: ein Theaterstück von Carl Zuckmayer, zwei Verfilmungen, ein Museum und jeden Samstag in Köpenick noch einmal das ganze Spektakel für die Touristen.
Es hat auch seine Gründe, dass ein Lieblingsspiel unserer Jüngsten „Komm, wir verkleiden uns“ heißt, dass an Regentagen von Berlin bis Einödhausen Prinzessinnen, Seeräuber und Indianer die Kinderzimmer bevölkern. Und was ist mit dem Rausch des Kostümierens, wenn für die Erwachsenen die „fünfte Jahreszeit“ anbricht? Das Spiel des Tarnens und Täuschens, das wir alle zu gern spielen, weil wir dann besser, schöner, bedeutender scheinen, als wir sind. „In jedem von uns steckt ein kleiner Hochstapler oder Blender“, schreibt Franziska Lamott in ihrem Aufsatz über „Hochstapler, Gauner und andere Ganoven“, und wir werden ihr nicht widersprechen.
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