„Ach ja, kommen Sie doch.“ Kellert war aufgestanden, hatte den Besucherstuhl herangeschoben und wies nun mit einladender Geste darauf. „Herr, ääh“ – er starrte auf eine Aufstellung, die er sich gemacht hatte – „Herr Dr. Schachner.“ „Richtig“, antwortete dieser beflissen und geschmeichelt darüber, dass man sich nach der gestrigen Befragung an ihn erinnerte. „Dr. Winfried Schachner mein Name. Ich bin Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik an der hiesigen Universität.“
„Ich weiß, ich weiß“, kommentierte Kellert und dachte bei sich: ‚Der sieht nun wirklich genau so aus, wie Beate sich einen Theologieprofessor vorgestellt hat‘, sagte aber: „Was haben Sie denn auf dem Herzen? – Einen Kaffee oder ein Mineralwasser?“ „Nein, nein, danke“, druckste Schachner herum. „Mach mal aus“, brummte Kellert zu seinem Mitarbeiter und deutete dabei auf das Radio. Der erhob sich, schaltete das Gerät aus und setzte sich dann wieder an seinen Platz.
„Nun ich … ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen das überhaupt sagen soll“, begann Dr. Schachner, „aber nach unserem Gespräch gestern hatte ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen etwas verschwiegen. Und das nützt ja niemandem, oder?“ „Gut, dass Sie gekommen sind“, ermunterte ihn der Kommissar und blinzelte seinem Mitarbeiter zu. Solche Einleitungen kannten sie schon, und oft genug wurde dann etwas wirklich Wichtiges gesagt. Manchmal freilich auch nur Belangloses. Thiele duckte sich zwar hinter seinen Bildschirm, hörte aber genau zu.
„Ja, also das war so. Mein Chef, Professor Mühlsiepe, ist ja Ordinarius für Dogmatik.“ – ‚Schönes altes Wort, Ordinarius‘, dachte Kellert, ‚das werde ich in meinen aktiven Sprachschatz aufnehmen.‘ – „Und er hat seit einigen Monaten einen harten Konflikt mit dem Dekan gehabt. Ich weiß nicht genau, worum es dabei ging, mein Chef hat das nie klar angesprochen, aber …“ Er suchte nach Worten.
„Aber?“, wiederholte Kellert ermunternd.
„Es gab da einen besonders heftigen Streit. Das muss so vor zwei Wochen gewesen sein. Der Dekan war bei meinem Chef im Dienstzimmer. Ich habe ja das Assistentenzimmer direkt daneben und die Wände sind nicht gerade massiv. Außerdem lasse ich immer meine Zimmertür auf, damit die Studierenden sehen, wann ich da bin. Nun, so kann man zwar normalerweise nicht verstehen, was nebenan gesprochen wird, aber wenn es lauter wird, hört man es schon, ob man will oder nicht.“ Unsicher blickte er zum Kommissar hinüber. Kellert verstand sofort, dass sein Gegenüber unbedingt den Eindruck vermeiden wollte, als heimlicher Lauscher zu gelten, und nickte ihm deshalb aufmunternd zu.
„Also sie hatten sich eine Zeit lang angebrüllt, dann ging die Tür auf und der Dekan stürmte aufgebracht hinaus. ‚Ich habe lange genug geschwiegen!‘, brüllte er, ‚und ich hatte Sie gewarnt!‘ ‚Gehen Sie nicht zu weit!‘, rief mein Chef, nicht weniger aufgeregt, ‚ ich warne Sie!‘ Inzwischen war der Dekan schon einige Schritte entfernt, nun hörte ich, wie er wieder zurückkam. ‚ Sie wollen mir drohen?‘, fragte er, nun plötzlich viel gefasster und leise: ‚Sie wollen mir drohen! Machen Sie sich doch nicht lächerlich!‘ Dann ist er leise vor sich hin lachend davongegangen. So ungefähr war das.“
„Und das war, sagen Sie, vor zwei Wochen?“, fragte Kellert nach. „Ja, ungefähr, warten Sie mal: ja, Montag vor zwei Wochen. Genau, da musste ich mein Seminar etwas eher beenden, weil ich in meiner Gemeinde einen Info-Abend zur diesjährigen Firmvorbereitung halten musste.“
Der Kommissar überlegte: „Hat noch jemand diesen Streit mit angehört?“ Dr. Schachner zuckte mit den Schultern: „Weiß ich nicht, kann sein. Unsere Sekretärin nicht, die hatte da ihren freien Tag, und von den Hiwis … nein! Da war, glaube ich, auch keiner da. Aber es kann natürlich jemand von den anderen Lehrstühlen etwas mitbekommen haben.“
„Und worum es bei dem Streit ging, das wissen Sie nicht?“, bohrte der Kommissar nach. „Nein, wirklich nicht. Wissen Sie: Wir sind uns menschlich nicht so nahe, mein Chef und ich. Er ist ein guter Dogmatiker, auch beliebt bei den Studenten, aber als Mensch kommt niemand so richtig an ihn heran. Na ja, so ein typischer Norddeutscher eben.“
‚Du scheinst ja sehr klare Kategorien zu haben, Bürschchen‘, dachte Kellert, sagte aber stattdessen neutral: „Soso! Nun, vielen Dank jedenfalls, dass Sie gekommen sind. Ihre Beobachtung muss ja gar nichts bedeuten, aber wir sollten alle Möglichkeiten bedenken.“ Er erhob sich und geleitete Schachner zur Tür. Dort drehte sich dieser noch einmal um und sagte: „Ich kann mich doch darauf verlassen, dass niemand von dieser Aussage erfährt, vor allem mein Chef nicht?!“ „Klare Sache“, nickte Kellert ihm zu, „ist doch selbstverständlich. Auf Wiedersehen!“
„Komischer Bursche“, meinte Dominik Thiele, als sich die beiden Polizisten wieder allein gegenübersaßen. „Irgendwie zu glatt, zu wenig fassbar, ich weiß nicht.“ „Das schon“, pflichtete ihm sein Chef bei, „aber doch wohl glaubwürdig, oder? Tja, da werde ich wohl noch einmal an die Uni fahren müssen. Mal sehen, ob an der Sache etwas dran ist.“
„Soll ich mitkommen, Chef?“ „Nein, das mache ich am besten allein. Überprüfe du doch mal das private Umfeld von Gerstmaier und seine finanziellen Verhältnisse. Vielleicht hat der Mord ja gar nichts mit der Uni zu tun.“ „Aber die verschwundenen Papiere!“, gab Thiele zu bedenken. „Gut, dass du die erwähnst, da muss ich auch noch einmal nachhaken. Das werden wir schon sehen, ob die wichtig sind.“ ‚Aha‘, dachte Dominik Thiele, ‚Kellert nimmt eine Fährte auf. So kenne ich ihn.‘
Mittwoch, 12. Mai, vormittags
Ein Prodekan und viele Geheimnisse
Prodekan Hermann-Josef Kösters hockte missmutig in seinem Büro. Das mittellange braune Haar, sonst immer streng gescheitelt und gekämmt, hing ihm ungeordnet über Stirn und Hornbrille. Rechts und links an den Wänden zogen sich Regalreihen hoch, vollgestellt mit Karteikästen, Leitzordnern, Büchern. Da blieb kein Platz frei für Bilder. Auf dem gleichfalls dicht bepackten Schreibtisch fand sich je ein Foto von seiner Frau und seiner Tochter sowie – immerhin – eine unbeholfene Kinderzeichnung, auf der ein Strichmännchen einen Blumenstrauß pflückt.
In der linken Hand hielt der Professor einen dampfenden Becher Kaffee, mit der rechten fingerte er an einem Kugelschreiber herum. Ihm gegenüber saß Silvia Hoberg, die Dekanatssekretärin, auch sie mit einem Kaffee. „Aber verstehen Sie doch“, stieß Kösters gerade aus, „ich habe dem Verlag fest zugesagt, dass das Manuskript bis Ende Oktober fertig ist. Fünf Jahre sitze ich an diesem Kommentar, fünf Jahre! Und jetzt brauche ich einfach noch konzentrierte vier Monate, dann kann ich das auch schaffen. Ich habe ja schon unseren Sommerurlaub abgesagt. Was glauben Sie, wie sauer Gabi und Sophie auf mich sind?!“ Damit wies er auf die beiden Fotos auf seinem Schreibtisch.
Hobi kannte die Ehefrau und die spät geborene Tochter des Prodekans, die immer mal wieder in der Fakultät vorbeischauten.Sophies Grundschule lag gleich um die Ecke. Seine Tochter war sein Ein und Alles. Gerade weil er ein später Vater war, liebte er dieses Kind – ‚fast mehr als seine Frau, wenn man nach dem äußeren Eindruck geht‘, dachte die Dekanatssekretärin immer wieder, ‚aber die beiden haben ja auch lange genug auf ihren kleinen Sonnenschein warten müssen‘. Sie wusste auch, dass Kösters an einem großen Kommentar zum Johannesevangelium schrieb, eine Arbeit, die ihm alle Konzentration und Kraft abverlangte.
„Aber was sollen wir tun, Herr Kösters?“, fragte sie im Wissen, bei ihm den Zusatz „Herr Professor“ weglassen zu dürfen, was beileibe nicht bei allen Kollegen im Hause angesagt war. „Ich weiß ja, ich weiß“, seufzte dieser, während er sich das Haar zurechtstrich. „Ich werde all das aufschieben müssen. Ob ich will oder nicht, als Prodekan muss ich jetzt die Fakultät führen. Ich habe heute Morgen schon die offizielle Bestätigung vom Präsidenten der Universität erhalten. Schauen Sie hier!“ Er zog ein Blatt von einem der Papierstapel und las laut: „… wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand und viel Geschick in der Behandlung der unliebsamen Angelegenheit.‘ Unliebsame Angelegenheit, der ist gut! Ein Mord, hier bei uns! Eigentlich unfassbar! Und alle anderen Geschäfte müssen ja auch weitergehen.“
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