Boulevard-Journalisten sezierten mein Leben. Sie sezierten meine Kindheit. Meine Jugend. Meine Beziehungen zu Männern. Meine Beziehung zu meinem damaligen Lebensgefährten. Stellten die Frage. Wie lange hätte er noch gelebt?
Vielleicht spürten sie, was ich wirklich bin. Konnten es nur nicht fassen. Sie nannten mich eiskalt. Am Ende kam ein Name dabei heraus. Eislady. So nannten sie mich von da an.
Eine Gerichtspsychiaterin sezierte mich ebenfalls. Meine Anwälte wollten mit einer schwierigen Kindheit argumentieren. Grober Vater. Prügelvater. Trauma. Normal bist du als Doppelmörderin, wenn du ein Kindheitstrauma hast. Mein Vater war einverstanden.
Wenn es dir hilft, eine mildere Strafe zu bekommen, ist es in Ordnung für mich, sagte er.
Mir fielen fünf weitere Gründe für ein Trauma ein. Ich sagte der Psychiaterin, ich wurde
erstens. Mit zwei Jahren fast entführt.
Zweitens. Mit fünf mit dem Tod bedroht.
Drittens. Mit neun unsittlich berührt.
Viertens. Mit 16 vergewaltigt.
Fünftens. Später noch einmal vergewaltigt.
In ihrem Katalog der seelischen Verletzungen reichte nichts davon für ein Trauma, das zwei Morde bedingt.
Wäre ich unansehnlich gewesen, wäre es vielleicht anders gelaufen. Mein Urteil wäre lebenslänglich gewesen. Oder sie hätten mich für unzurechnungsfähig erklärt. Dann wäre ich vielleicht in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses gelandet. Im ersten Fall könnte ich mich jetzt auf Freigänge in vier bis fünf Jahren einstellen. Im zweiten hätte ich jederzeit die Aussicht, als geheilt entlassen zu werden.
Doch ich bin schön. Im Gefängnis heiratete ich meinen Lebensgefährten Roland. Ich brachte ein Kind zur Welt, das wir vor meiner Verhaftung gezeugt hatten. Danach war ich ein Star. Bist du als Mörderin ein Star, kann dein Vater gar nicht so brutal gewesen sein, dass sie dich so davonkommen lassen.
Die Staatsanwaltschaft zeigte Fotos vom Keller unter meinem Eissalon. Aufgenommen, nachdem die Installateure die Polizei gerufen hatten und die Spurensicherung vor Ort gewesen war. Normalerweise tut die Staatsanwaltschaft so etwas nicht. Für mich machte sie eine Ausnahme. Dieser Anblick war dem Boulevard zu viel.
Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wiege 54 Kilo. Die Männer wogen 90.
Der Boulevard forderte die volle Härte. Ohne die volle Härte wäre das Justizsystem in Frage gestanden.
Das Urteil lautete lebenslänglich und Maßnahmenvollzug für zurechnungsfähige geistig abnorme Rechtsbrecher. Paragraph 21 Absatz 2 Strafgesetzbuch. Das bedeutet lebenslänglich plus Psychoknast so lange sie wollen. Mit diesem Urteil kommst du nie wieder heraus, wenn ihnen nicht danach ist. Mit diesem Urteil bist du es offiziell. Gefährlich für die Allgemeinheit.
Es ist das härteste Urteil nach der Todesstrafe, das du auf dieser Welt bekommen kannst. In skandinavischen Ländern zum Beispiel gibt es dieses Urteil nicht. In Österreich und Deutschland will es das Strafrecht so. In Deutschland heißt es Sicherungsverwahrung.
Die Therapie ist bei diesem Urteil deine einzige Chance auf Freiheit irgendwann nach lebenslänglich. Fakten und juristische Instanzen spielen dabei keine Rolle mehr, denn kein Blutbefund liefert Empathiewerte. Dieses Urteil unterwirft dich der Diktatur der Psychiatrie.
Die Gerichtspsychiaterin gelangte zu eindeutigen Schlüssen. Für sie war ich
erstens. Narzisstisch.
Zweitens. Manipulativ.
Drittens. Beziehungssüchtig.
Viertens. Histrionisch.
Die helle Seite der Welt seziert die dunkle, um sich über sie zu erheben. Die Aufgabe einer Gerichtspsychiaterin ist es dabei
erstens. Der Welt da draußen etwas zu geben, das sie darin bestärkt, normal zu sein.
Zweitens. Die Welt da draußen in der Illusion zu wiegen, dass der Abgrund benennbar, vermessbar und schubladisierbar ist.
Alle waren sich einig, dass ich die gerechte Strafe bekommen hatte und dass die Allgemeinheit sich vor mir schützen muss. Auch wenn sie nicht so genau wussten, was die Worte in meinem Gutachten bedeuteten.
Narzisstisch. Gerne im Mittelpunkt stehen.
Manipulativ. Dinge sagen, die so nicht oder nicht ganz stimmen, damit andere etwas denken, fühlen oder wollen, von dem du willst, dass sie es denken, fühlen oder wollen.
Beziehungssüchtig. Lieber eine fragwürdige als gar keine Beziehung haben und sich von einer in die nächste stürzen.
Histrionisch.Viel Drama um nichts machen.
Ich stehe gerne im Mittelpunkt. Es gefällt mir, dass ich den Boulevard fasziniere. Aber wer kann von sich sagen, dass ihm das egal wäre? Ich verstecke mich hinter Masken und wechsle sie. Aber tut das nicht auch jede Frau, die ihre Haare färbt und sich schminkt? Ich hielt nach dem Ende einer Beziehung die Zeit bis zur nächsten immer kurz. Aber wer hatte am Ende einer Beziehung noch nie den Wunsch, dass jemand kommt, der ihn rettet und mit dem. Alles besser wird? Ich mache manchmal Wirbel um Nichtigkeiten und steigere mich dabei selbst hinein. Aber übertreiben nicht schon die Kinder ihren Schmerz, um Aufmerksamkeit zu erregen?
Je genauer Ärzte deinen Körper untersuchen, desto mehr finden sie, das nicht ihren Normen entspricht. Bei Ihnen stimmt das nicht und das nicht, sagen sie dann. Du wirst zum Patienten, ohne dass dir etwas fehlt.
Mit deiner Seele ist es das Gleiche. Untersuchen Psychiater sie, pathologisieren sie, was sie finden. Würden sie die Seelen aller Menschen so genau untersuchen wie meine, wären die Straßen, die U-Bahnen, die Konzerthallen, die Häuser. Wäre die ganze Welt voller zurechnungsfähiger geistig abnormer Menschen.
Die Diktatur der Psychiatrie hat so nie jemand beschlossen. Sie ist entstanden. Sie hat sich eingeschlichen und niemand sieht hin. Sie ist ein Fehler im System.
Es stimmt schon.
Du sollst nicht töten.
Ich habe es trotzdem getan. Das gibt ihnen das Recht, mit mir nach ihrem System zu verfahren. Nur muss ihr System noch ein paar andere Fehler haben. Denn nichts, das sie bei mir gefunden haben, erklärt meine Taten.
Drei Glastüren. Ein Gang. Eine vierte Tür. Dahinter öffnet sich ein heller Raum mit einer Terrasse. Nach drei Seiten Fenster vom Boden bis zur Decke. Ein paar runde Tischchen mit einfachen Stühlen. Eine Küchenzeile, die wenig benützt aussieht. Zimmerpflanzen. Zwei Getränkeautomaten. Ein Pfleger, der mich hergebracht hat, und ich.
Wir bleiben stehen und warten.
Das ist sonst der Besucherraum, sagt der Pfleger.
Nach fünf Minuten ist Weber da.
Frau Carranza.
Händedruck.
Er deutet auf eins der Tischchen.
Ich bin zittrig. Hoffe, dass ich das mit dem Sessel und dem mich Daraufsetzen richtig hinkriege. Es gibt Dinge, die verlernst du. Mit Höflichkeit umzugehen ist eines davon.
Weber spricht über Regeln. Er sagt, dass ich hier Freiheiten haben kann. Bei den Besuchszeiten zum Beispiel. Dass es dafür nur eine Voraussetzung gibt.
Lernen Sie, sich an Regeln zu halten, Frau Carranza, sagt er. Dann ist vieles möglich.
Ich kenne das. Ich kenne es aus den anderen Gefängnissen. Es ist das große Dogma. Damit fängt alles an. Mit dem Einhalten von Regeln.
Sie wissen, was du getan hast. Sie wissen, wozu du fähig bist. Sie wissen, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen du Regeln brechen kannst. Brichst du sie sogar hier im überwachten Raum, denken sie, wirst du es draußen in Freiheit erst recht tun.
Wer sich dagegen an Regeln halten kann, kann sich auch an diese halten.
Du sollst nicht töten.
Hältst du dich an die Regeln, winken dir Haftlockerungen. Im Forensischen Zentrum Asten gibt es dafür drei Stufen.
Stufe eins. Du kannst dich in der Anlage freier bewegen.
Stufe zwei. Du kannst bei begleiteten Freigängen gemeinsam mit einem Beamten einkaufen gehen, ins Kino gehen oder ein Konzert besuchen.
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