Er trainiert nie in Wassertanks, er ist klaustrophob.
Im Schwimmbad arbeitet er an seiner Technik und übt, den Drang zu atmen zu kontrollieren. Er tut es heimlich, damit sich niemand erschreckt. Wenn keiner hinschaut, taucht er unter, legt sich auf den Boden, wo ihn – wie er hofft – niemand entdeckt. Geschieht es trotzdem, wird er gerettet. Wie oft wurde er schon vermeintlich gerettet? Er bedankt sich jedes Mal nett.
Der entscheidende Moment ist der, wenn das Gesicht ins Wasser taucht. Dann finden die körperlichen Anpassungen statt, der Tauchreflex. Die Verlangsamung des Herzschlags, die Gefäßverengung, die Erhöhung des Blutdrucks, die Umverteilung des Blutes von den Extremitäten hin zu den lebenswichtigen Organen. Aufgrund dieses Phänomens erreichen Apnoetaucher Tiefen, die Wissenschaftler vor einigen Jahren noch für unmöglich hielten.
Die Natur hat dir Grenzen gesetzt, aber du weißt nicht, wo sie liegen.
Irgendwann hat er mit No Limit begonnen. Der Disziplin, die es ihm erlaubt, technische Hilfsmittel seiner Wahl einzusetzen, um in größere Tiefen vorzustoßen. Es ist eine der tödlichsten Sportarten der Welt. Ein Gewichtsschlitten zieht ihn so schnell wie möglich hinunter, ein luftgefüllter Hebesack drückt ihn wieder nach oben. So kommt er deutlich tiefer. Das mögen die Medien.
Heute taucht er nur auf siebzig Meter in ungefähr einer Minute. Da stehen sie am Strand und warten auf ihn. Mit dem Boot fahren sie raus, erreichen die anderen, die auf einem Katamaran alles vorbereitet haben.
Diese Hektik. Diese Logistik. Er muss nicht ganz bei Trost sein. All die Leute, die für ihn arbeiten.
Er setzt sich an den Schiffsrand, die Beine im Meer.
Spritzt sich Wasser ins Gesicht, setzt sich die Nasenklammer auf, holt tief Luft.
Kopf und Hände voraus zieht es ihn am Schlitten runter.
Es ist schon sehr bald sehr dunkel.
Auf zwanzig Metern zwei Ärzte mit Pressluftflaschen.
Auf sechzig Metern zwei Ärzte mit Pressluftflaschen.
Der Druck, der auf seinem Körper lastet, ist groß.
Sieben Kilo auf jedem Quadratzentimeter.
Rauf am Führungsseil mithilfe des Ballons.
Wenn es dich nach unten zieht, siehst du die Größe des Meeres nicht. Du siehst nur Tiefe. Erst wenn du unten bist, siehst du wieder die Größe, wie wenn du an Land bist und übers Meer blickst.
Du bist alleine
du hast noch etwas Sauerstoff
du hörst dein Herz
du spürst dein Blut.
Als er anfing, hielt er es im Pool vierzig Sekunden unter Wasser aus.
»Aber du bewegst dich schon wie ein Fisch.«
Aurel. Von Anfang an dabei.
Als Cyril den Poolgrund auf zwei Meter vierzig berührte, war er glücklich. Ab dort war es für ihn leicht gewesen. Er wollte weiter auf fünf Meter, auf sieben, zehn.
Seine Grenze lag irgendwann bei eineinhalb Minuten, dann bei zwei, schließlich etwa bei drei Minuten Luftanhalten.
Jahrelanges Training für einen Vierminutentauchgang denkt Cyril mit Blick aus dem Flugzeugfenster.
Irgendwo, weiß er, ist Renaud, sein größter Konkurrent, und will seinen Rekord in No Limit brechen.
»Zuerst geht es nur darum, dieses Element, das nicht deines ist, zu akzeptieren. Den Kopf einzutauchen und es zu akzeptieren. Dann ist es an dir, wie viel mehr du willst.«
Manchmal ist er praktisch im Koma hochgekommen, er war tief unten gewesen, lange geblieben, er hatte sich gut gefühlt.
»Du tauchst. Du tauchst tief. Du stellst den neuen Weltrekord auf und solltest glücklich sein, aber alle um dich herum sind nur wütend. Ich wollte nie den Weltrekord brechen, ich wollte nur verschwinden.«
Die Journalistin nickt.
Als sein Vater starb, legte Cyril seinen Kopf neben seinen. Wange an Wange. Er spürte die ganze Kraft, die noch im Sterben von ihm ausging, die Freiheit zu gehen. Das war die Basis, die Cyril in Zukunft brauchen würde.
Wasser ist ein weibliches Element. Es dominiert von allen Seiten.
Sie packt ihn an der Kehle, krümmt ihn
und es gefällt ihm.
Sie zähmt ihn.
Er wimmert nicht um Gnade.
Er ist bereits im Wasser, bevor er es wirklich ist. Vor einem Tauchgang verlässt er die Welt schon außerhalb des Wassers, bevor er überhaupt eintaucht. Alles, was dann an sein Ohr dringt, nimmt er ganz verformt wahr. Alles, was man zu ihm sagt, hört er bereits nicht mehr.
Der Wechsel von der Luft ins Wasser, dieser Schnitt, den Kopf einzutauchen, die Oberlippe, die Nase. Danach ist es leicht.
Er hat sein Leben nicht in der Nähe des Meeres zugebracht. Er ist in der Stadt aufgewachsen, in Paris, wo er noch immer lebt.
Sara hatte ihr Glas nach ihm geworfen. Vor den Kindern. Nur knapp an seinem Kopf vorbei.
»Du plötzlich mit deinem neuen Code! Eins, neun, drei, sechs … Ich habe alles gelesen! Seit Monaten lese ich deine Nachrichten! Du wolltest heute nur ins Schwimmbad gehen, weil du gehofft hast, IHR zu begegnen!«
Die Augen werden groß.
Die Augen würden aus den Höhlen gesaugt werden ohne Maske.
Manchmal hört er das Rufen von Walen. Von großen Fischen. Der Mensch gehört hier nicht her. Trotzdem zieht es ihn in dieses fremde Element. Es ist gefährlich. Es ist nicht normal. Er ist kein marines Säugetier. Aber er hat keine Angst mehr vor dem Tod.
Um ohne Sauerstoff in die Tiefe des Meeres zu tauchen, musst du zuallererst verstehen, was der Tod ist, um dich nicht mehr vor ihm zu fürchten.
Das Herz schlägt langsamer. Im Extremfall zwölf, dreizehn Schläge pro Minute. Und doch bist du noch am Leben.
Erste-Hilfe-Techniken.
Herz-Lungen-Wiederbelebung.
Kinn aus dem Wasser heben.
Manche atmen nach dem Auftauchen nicht sofort
im Traum tauchen sie noch.
Über die Nase pusten.
»Atme!« brüllen.
Das Hören ist der letzte Sinn, der uns verlässt.
In der Kategorie No Limit werden keine Wettkämpfe ausgerichtet. Verheerende Unfallbilanz, moniert der Verband. Den Wettstreit aber gibt es durchaus, No Limit als Rekorddisziplin. Ein offizieller Beobachter kommt mit an Bord. Wenn alles stimmt, wird dein Tauchgang anerkannt und ins Ranking aufgenommen.
Bei den Gruppen-Wettbewerben taucht er weiterhin Free Immersion. Mit bloßen Füßen und aus eigener Kraft zieht er sich am Seil in die Tiefe und wieder hinauf.
Renaud taucht bei Wettkämpfen Constant Weight, schwimmt mit Flossen runter und wieder an die Oberfläche, berührt das Seil nur einmal bei der Wende.
Und obwohl sie bei Wettkämpfen in verschiedenen Disziplinen tauchen, kämpft Renaud wie er in No Limit um die maximale Tiefe.
Bevor Cyril die Klammer aufsetzt, atmet er durch die weit geöffneten Nasenlöcher ein. Er stellt sich einen Luftstrom vor, der direkt in sein Hirn fährt. Nur den letzten Atemzug nimmt er durch den Mund. Er spricht zu sich selbst. Er hört die Stimmen, die ihn bewerten, seine eigenen inneren Stimmen. Du kannst das. Du hältst es dort unten lange aus .
Blau.
Die Stimmen verschwinden.
Sein Ego verschwindet.
Er nimmt nur noch die Informationen aus seiner Umgebung wahr.
Du bist ein Tropfen im Meer.
Im Wasser bist du Sklave.
Alles ist dunkel rundherum.
Ab jetzt versucht er, alle Energie, die er in seinem Körper trägt, zu nutzen.
Er war nie in einem Kloster. Er hat nie Yoga gelernt. Seine mentalen Entspannungstechniken kommen – woher?
Im Schwimmbad arbeitet er an der Dauer seiner Tauchgänge, ohne eine Uhr bei sich zu haben. Er kann die Sekunden nicht zählen, aber er weiß, wann er ein stärkeres Gefühl hat als zuvor.
Im Training will er keine Computer und Uhren mit sich im Wasser haben. Er will nichts bei sich haben, wenn er taucht.
Er arbeitet an der Entspannung.
Er darf kein Adrenalin ausschütten, das könnte ihn sein Leben kosten.
Im Meer kämpft er gegen die Stimmritzen, die sich öffnen möchten.
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