„Also, wenn das hier nicht Ihre Bar ist, was machen Sie denn dann?“
„Ich erfülle mir einen alten Jugendtraum und eröffne ein Restaurant. Außerdem habe ich noch ein paar Fremdenzimmer.“
„Dann kochen Sie sehr gerne?“
„Im Prinzip schon, aber ich habe einen einheimischen Koch. Ich werde höchstens mal ein deutsches Gericht zubereiten, für die Touristen.“
„Was macht dann Ihren Jugendtraum aus, wenn nicht das Kochen?“ Lucy lehnte sich zurück und spielte etwas mit ihrem brünetten Haar. Sie drehte es zu einer Locke auf.
„Sie sind scharfsinnig“, sagte er leicht fasziniert und stellte innerlich fest, dass sie direkt auf den Kern der Sache zusteuerte. Und stellte sich unwillkürlich die Frage, ob sie wohl verheiratet war. Er wunderte sich über den Gedanken, das war nicht seine Art.
„Ich mag das Gefühl, ein guter Gastgeber zu sein. Ich liebe den Gedanken, dass ich meinen Gästen eine Auszeit aus dem Alltag ermögliche. So kann ich zumindest einen kleinen Teil dazu beitragen, die Welt wenigstens für ein paar Stunden besser zu machen.“
Lucy beugte sich etwas vor und berührte seine Hand. „Das scheint Ihnen extrem wichtig zu sein. Die Welt ein wenig besser zu machen?“
Renner verlor ein wenig die Fassung, es war, als würde sie ihm in die Seele blicken. „Sind Sie alleine hier?“, rutschte es ihm heraus.
„Na, im Moment sitze ich hier mit Ihnen am Tisch.“ Lucy pustete eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte ihn schelmisch an. „Es wartet aber kein eifersüchtiger Ehemann auf mich, wenn Sie das wissen wollten.“
Renner räusperte sich. „Ich stelle mich nicht besonders geschickt an, oder?“
„Nein, das machst du nicht, Marc.“
Hatte Sie ihn gerade geduzt? Ein prüfender Blick in ihre schelmisch lächelnden Augen genügte. Er lachte verlegen und beschloss, sie auch zu duzen. Und stellte fest, dass er seinen Namen gerne öfter aus ihrem Mund hören wollte. Er nahm seinen Mut zusammen und sagte: „Dafür bin ich aber als Fremdenführer recht geschickt.“ Er zog einen zerknitterten Flyer aus der Hosentasche. „Das ist das Infoblatt für meine Gäste, mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Region. Wenn du Lust hast, können wir uns einige davon ansehen.“
Sie schwieg kurz und schaute ihn an. Dann lächelte sie. „Ja, wieso eigentlich nicht.“
Nach einem langen Nachmittag, der zuerst in die kleine örtliche Kirche Nostra Senyora dels Angels führte, dann in die Bronzezeitsiedlung Capocorb Vell und schließlich mit einem Ausflug auf einem kleinen Motorboot zum Naturschutzgebiet auf den Inseln Cabrera, die südlich vor Cala Pi lagen, hing Lucy an Renners Arm und war hin und weg, sowohl von ihm als auch vom Ausflugsprogramm. Das Cabrera-Archipel tat sein Bestes, um einen unvergesslichen Tag zu liefern. Nach einer kurzen Stippvisite in der historischen Burgruine, von deren Mauern Renner und Lucy einen wunderbaren Blick auf das tiefblaue Meer und die Inseln hatten, standen sie mit einem Eiskaffee vor dem winzigen Besucherzentrum.
„Lucy, psst! Schau mal!“ Renner deutete auf einen kleinen schwarzen Salamander, der über eine Mauer huschte und in der struppigen Vegetation verschwand.
„Ob der Glück bringt?“ Lucy lachte, was zwei winzige Grübchen offenbarte, wie Renner fasziniert bemerkte.
„Ich fürchte, eher nicht, jedenfalls kommt ausgerechnet jetzt unser Taxi nach Hause.“ Renner deutete auf das Motorboot, das gerade angelegt hatte. „Ich hatte gehofft, wir sehen noch Delfine oder einen Finnwal. Die sollen sich hier gelegentlich blicken lassen.“
Lucy legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: „Der Tag war so schon unvergesslich.“ Sie trat einen Schritt näher. Renner wurde nervös. Lucy neigte sich zu ihm und ihre Lippen trafen sich. Nach einem kurzen, vorsichtigen Kuss stiegen sie ins Boot. Lucy legte ihren Kopf auf seine Schulter und sagte leise: „Lass uns zu dir gehen. Ich möchte deinen sagenhaften Koch in Aktion erleben.“ Lucy küsste ihn erneut. Diesmal ein klein wenig länger.
Der Abend ging schnell zu Ende. Santos hatte das Restaurant in seiner Abwesenheit geschmissen, den treuen Koch hatte er vor einer Stunde nach Hause geschickt, als der letzte Gast ging.
Renner ging mit beschwingten Schritten zum Turm, eine Flasche Cerveza Nau, von den deutschen Hausbrauern in Santa Maria del Cami, unter dem Arm geklemmt. Einen so schönen Abend hatte er lange nicht mehr gehabt. Ihre fröhliche und frische Natur hatte die manchmal leicht depressive Grundstimmung seiner selbstgewählten Einsamkeit durchbrochen. Zum ersten Mal seit Jahren war ihm wieder eine Frau sehr nahe gekommen. Vor fünfzehn Minuten war Lucy ins Hotel aufgebrochen, sie hatte entschuldigend die Hände gehoben und um Nachsicht gebeten. „Ich alte Jungfer brauche einfach noch meinen persönlichen Freiraum. Zumindest bis ich mich wieder an einen Mann an meiner Seite gewöhnt habe.“ Der letzte Satz hatte Renner geradezu in Hochstimmung versetzt. Er konnte es sich wirklich vorstellen, Lucy bei sich zu haben. Einmal kräftig durchatmen wäre jetzt sicher eine gute Idee, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Gar nicht leicht, er spürte noch den Geschmack ihrer Lippen. Und hatte den leidenschaftlichen Abschiedskuss noch deutlich vor Augen. Er setzte sich vor den Turm und schaute glücklich auf das weite, blaue Meer hinaus. Die Hitze prallte fast wirkungslos an ihm ab, der Schatten der Kiefern um ihn herum und die steife Brise vom Meer kühlten ihn zusätzlich ab. Es war fast 22 Uhr. Als er seinen Blick von der Sonne abwandte, die schon fast im Meer versunken war und dabei den ganzen Horizont in Brand zu setzen schien, streifte sein Blick die gegenüberliegende Steilküste. Dort stand jemand. Hochaufgerichtet, direkt an der Steilküste. Renner stand wie hypnotisiert auf und ging bis an den Rand des Abgrunds. Die Gestalt auf der Klippe trug etwas, das aussah wie ein Kopfschmuck. Als Renner blinzelte, verschwand die Gestalt plötzlich wieder. Ein leichtes Frösteln überkam ihn und irgendwie fühlte er sich auf einmal sehr unbehaglich.
Auf einer Straße in Cala Pi
30. April, gegen 23 Uhr
Die Frau ging mit beschwingtem Schritt die Straße entlang. Grillen zirpten leise, der heiße Asphalt der Straße strahlte noch die Hitze des Tages ab. Links neben ihr, hinter der Steilküste, ging die Sonne langsam unter und der Horizont brannte förmlich, in rötlichen Widerschein getaucht. Ein leichter Wind wehte durch die Büsche, ließ die Blätter der Palmen rascheln und fuhr ihr erfrischend durch die Kleider. Sie wirkte trotzdem müde und unkonzentriert. Plötzlich knackte ein Zweig. Die Frau drehte sich um – doch da war nichts zu sehen. Oder war das ein Schatten? Sie wusste es nicht. Und die Stille, die gerade noch so beruhigend war, war mit einem Mal bedrückend und angsteinflößend. Weit und breit kein Mensch. Sie beschleunigte instinktiv ihre Schritte – sobald sie in ihrer Ferienwohnung war, würde sie sich sicherer fühlen. Jetzt bereute sie, dass sie darauf bestanden hatte, alleine zu laufen. Mittlerweile war sie fast einen Kilometer gelaufen, das Ziel war nicht mehr fern. Sie hörte Schritte hinter sich. Drehte sich blitzartig um. Doch da war niemand. Sie hastete weiter. Dann zwang sie sich, langsamer zu gehen, weil sie sich sagte, dass ihre Angst völlig unbegründet war. Sie passierte eines der vielen flachen Häuser, die verstreut an der Straße lagen, und bog ab in den Feldweg, der zu ihrer Ferienwohnung führte. Von weitem konnte sie schon die Finca sehen, an der sie jeden Morgen vorbeiging. Ein schönes, geräumiges Haus mit Natursteinmauern und einem Garten voller Olivenbäume. Sie hörte wieder knirschende Schritte hinter sich. Griff in ihre Handtasche und umklammerte das Einzige, was sich halbwegs als Waffe benutzen ließ: eine Nagelfeile. Dann drehte sie sich ruckartig um.
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