Wenn man unbedingt Bakterien in Zusammenhang mit Krieg betrachten wollte, würde nämlich auffallen, dass Bakterien zu allen Zeiten viel eher daran beteiligt waren, Feldzüge, Belagerungen und Schlachten zu beenden. Rickettsia mit Fleckfieber, Salmonella mit Typhus, Corynebacterium mit Diphtherie oder Vibrio mit der Cholera zwangen mehr Heere zum Frieden, als es Menschen jemals vermochten.
Mikroben können sich nicht wie Menschen verhalten. Uns Menschen unterscheidet von Einzellern, Steinen, Pflanzen und Tieren unser individuelles Ich-Bewusstsein. Wir haben die Freiheit, in unserem Denken und Handeln zu wählen. Mit dieser Freiheit geht Verantwortung einher und bilden sich moralische Werte wie »gut« und »schlecht« aus. Bakterien als »gut« oder womöglich gar als »böse« oder »gewalttätig« 22zu bezeichnen, ist zwar ein Kompliment für sie, weil man ihnen vieles zutraut, es geht jedoch völlig an ihrer Wirklichkeit vorbei. Und wenn daraus Handlungen abgeleitet werden wie »die ›guten‹ Bakterien schützen, die ›schlechten‹ bekämpfen«, so kann das nur gründlich schiefgehen.
Die Erfindung bakterieller Reinkultur
Entscheidend für die Meinungsbildung über Bakterien waren Forschungen mithilfe einer Technologie, die der in Paris wirkenden Chemiker (!) Louis Pasteur (1822–1895) bereits 1857 für seine Versuche mit Bakterien nutzte: der »Reinkultur«. Der Berliner Arzt und Mikrobiologe Robert Koch (1843–1910) erweiterte diese Technik auf das Prinzip fester Nährstoffplatten, auf denen Bakterienwachstum besser sichtbar wurde als in flüssiger Lösung zuvor.
Die Reinkultur besteht darin, Einzeller »von allen fremden, toten oder lebendigen Materialien, die sie begleiten«, abzulösen. 23Dass das gar nicht möglich ist, weil auch jede künstliche Nährlösung im Labor noch »tote oder lebende Materialien« hat, die sie begleiten und beeinflussen, wurde satte 150 Jahre lang geflissentlich übersehen. Selbst die Eigenschaften unterschiedlicher Gläser beim Experimentieren und Mikroskopieren beeinflussen das Bakterienwachstum. Schon Spuren von Kupfer, Zink, Bor, Alkali und anderem führen zur Abtötung oderVermehrung, das heißt zur Auswahl bestimmter Stämme. 24Man lebte also generationenlang in Forschungsillusionen.
Louis Pasteur hatte beobachtet, dass Gärungen von bestimmten Einzellern vollzogen werden, die man auch prompt nach diesen Gärungen benannte. Man dachte sich eine einfach Ursache-Folge-Kette. Milchsäurebakterien bewirken die Milchsäuregärung, Essigsäurebakterien die Essigsäuregärung und so fort. Es lag nahe, daraus zu schließen, dass auch »Krankheitsbakterien« die jeweils passende Krankheit »machen«. Man müsste, so glaubte man, dazu nur die jeweils zugehörige Mikrobe identifizieren.
Bei einer Reinkultur werden im Labor Bakterien so angezüchtet, dass aus einer Mischkultur schließlich die einzelnen, darin vorkommenden Bakterien jeweils vereinzelt als Monokultur auf jeweiligen Platten als Kolonien wachsen. Diese lassen sich unter geeigneten Bedingungen beliebig lang weiter vermehren. Robert Koch beispielsweise experimentierte mit Reinkulturen von Tuberkelbakterien, die er bis zu neun Jahren im Labor fortgezüchtet hatte. 25Derart gewonnene bakterielle Reinkulturen dienten und dienen bis heute für anschließende Tierversuche.
Die Vorgehensweise war relativ simpel: Man spritzte eine gewisse Menge einer bakteriellen Reinkultur in gesunde Organe lebender Tiere. Wurden diese Tiere daraufhin krank, galt dies als wissenschaftlicher Nachweis dafür, dass diese Bakterie der Verursacher der Krankheit sei. Wenn das Bakterium am Wachstum gehindert würde, so schloss man daraus, wäre damit zugleich die Krankheit zum Verschwinden gebracht. Diese Vorstellung war bestechend. Man glaubte, endlich den Weg zur Heilung gefunden zu haben. Voller Euphorie jubelte man Robert Koch zu, als er seinen dazu wegweisenden Vortrag vor 5000 Ärzten in Berlin im Jahr 1890 mit den Worten beendete: »Und so lassen Sie mich denn diesen Vortrag schließen mit dem Wunsche, dass sich die Kräfte der Nationen auf diesem Arbeitsfelde und im Kriege gegen die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde des Menschengeschlechts messen mögen und dass in diesem Kampfe zum Wohle der gesamten Menschheit eine Nation die andere in ihren Erfolgen immer wieder überflügeln möge.« 26
Dass Robert Koch es eigentlich für angemessen hielt, bloß das Wachstum der Bakterien im Körper zu stoppen, ohne sie dabei gänzlich zu töten, ging im späteren Schwung der Entwicklung von Antibiotika unter.
Unabhängig davon enthielt die damalige Idee verschiedene grundlegende Irrtümer. Zwar war die Zucht einer mikrobiellen Reinkultureine interessante Erfindung. Nur hatte sie mit den Gegebenheiten in der Natur – auch von Mensch und Tier – nichts mehr zu tun. Nirgendwo in der Natur gibt es eine solche Monokultur [3], vielmehr ist das Leben, wo immer es in Erscheinung tritt, auf große Vielfalt ausgelegt: eine Vielfalt aus untereinander in Beziehung lebenden Lebewesen, deren Miteinander im jeweiligen Lebensraum umso gesünder ist, je vielfältiger es eben ist. Aus der Vielfalt eines solchen Lebensraumes etwas zu entnehmen, es zu einer Monokultur umzuzüchten und diese Monokultur wieder in einen vielseitigen Lebensraum hineinzugeben, macht schon aufgrund der Methode krank, denn sie bewirkt dort in jedem Fall ein Ungleichgewicht. Das ist überall gültig. Gibt man also eine Monokultur in einen gesunden Lebensraum, wird dieser in Abhängigkeit des Verhältnisses zwischen Vielfalt und Monokultur krank. Einfacher ausgedrückt: Ein bisschen Monokultur in einem großen vielfältigen Lebensraum macht nicht viel aus, viel Monokultur in einer geringen Vielfalt macht krank. Es ist also eine Frage der Dosis.
Der Irrtum, Bakterien seien »Krankheitserreger«
Somit ist nicht dasjenige, was zur Monokultur herangezüchtet wurde, der Verursacher eines Ungleichgewichts. Vielmehr ist die Methode an sich die Ursache der daraus folgenden Probleme. Würde beispielsweise ein Mensch, dessen gesunde Ernährung bekanntlich in einer abwechslungsreichen Mischkost besteht, stattdessen nur noch Äpfel essen – morgens Äpfel, mittags Äpfel, abends Äpfel, täglich Äpfel, dauernd Äpfel –, würde er seinem Körper also eine Monokultur von Apfelernährung zufügen, so würde er kurz über lang krank werden, egal wie gesund Äpfel eigentlich sind. Und zwar einfach deswegen, weil ihm der Rest der Nahrung fehlt. Die Medizin kennt zahlreiche solcher Mangelerkrankungen. Man behebt sie, indem das Fehlende wieder zugeführt wird. Er würde auch krank, wenn er eine gewaltige Masse Äpfel auf einmal äße. Gemäß Kochscher Bakterienlogik wäre aber dann der Apfel der »Erreger« der Krankheit, der Schuldige, der nun am Wachsen gehindert werden müsse, um das Entstehen dieser Krankheit zu verhindern. Man müsste ein »Antiapfelbiotikum« erfinden und Äpfel bekämpfen, um diese Krankheit zu beheben. Dasselbe träfe zu, wenn jemand täglich nur noch ständig fortwährend dasselbe Lied trällerte. Oder seinen Blick unermüdlich auf nur eine einzige Buchseite richtete.
Der gesunde Menschenverstand weiß, dass all dies Unfug wäre, sooft man dies auch erfolgreich wiederholen würde.
Es sind folglich nicht die Einzeller an sich, die krank machen. Es ist schlichtweg ein Übermaß in ihrer Anzahl und Aktivität im Verhältnis zu dem Lebensraum, in den sie gerade gelangen. Gerät eine geringe Zahl an Mikroben, die an sich nicht in seinen Körper gehören, in einen gesunden Menschen, beispielsweise ein paar Salmonellen, geschieht nicht viel. Ist es aber eine große Menge, oder der Betroffene ist arm an Bakterien, können sie das Gleichgewicht aus dem Lot bringen, und der Mensch erkrankt. Das ist auch ein Grund dafür, dass nur jeweils ein Teil derjenigen, die in Kontakt mit den Mikroben kommen, krank wird, ein anderer Teil nicht. Wären gewisse Bakterien »per se Krankheitserreger« – fachsprachlich nennt man dies »obligat pathogen« –, wären wir längst alle krank oder tot. Das ist aber nicht der Fall. Eine Mikrobe macht noch keine Krankheit. Dazu gehört zwingend die Verfassung des Menschen. Selbst bei großen Epidemien – die in der Regel hygienischen Mängeln geschuldet sind – wurden nicht alle krank. Warum Menschen der Industrienationen anfälliger für mikrobielle Störungen geworden sind, wird auf Seite 84ff. noch weiter ausgeführt.
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