1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 3.1 Kognitive Entwicklung
Vor fast 40 Jahren waren es Kohlberg und Mayer (1972), die in den USA die hauptsächlichen theoretischen Positionen der frühkindlichen Bildung mit Begriffen wie Romantizismus, kulturelle Transmission und Progressivismus herausarbeiteten. Unter Romantizismus verstanden sie eine innengerichtete Reifungsperspektive und unter kultureller Transmission eine außengesteuerte behavioristische Perspektive. Der Progressivismus wiederum war eine Kennzeichnung der selbst konstruierten, phasenbestimmten Position.
|37◄ ►38|
Im Verlaufe der 1970er-Jahre wurde Piagets Phasentheorie in den USA bekannt. Sie setzte beim Progressivismus an und bildete einen Meilenstein in der Entwicklungspsychologie. Etwa gleichzeitig erlangte Wygotskis soziokulturelle Theorie (1971) eine gewisse Beachtung, doch blieb sie lange hinter dem Primat Piagets zurück. Heute sind beide Ansätze etwas in den Hintergrund getreten. FBBE-Konzepte werden weit stärker mit der Hirnforschung als mit den Erkenntnissen Piagets oder Wygotskis legitimiert. In der Tat ist die Hirnforschung ein faszinierendes neues Wissenschaftsfeld. Drei ihrer vielen Botschaften sind sicher sehr bedeutsam für die frühkindliche Bildung:
• dass wir die geistige Leistungsfähigkeit unserer jungen Kinder bislang stark unterschätzt haben,
• dass die Sinnesorgane – gesunde Augen und Ohren – besonders wichtig sind für eine gute Entwicklung,
• dass die Lernumwelt anregend und anspruchsvoll sein soll.
Selbstverständlich ist auch das vielfach formulierte Argument gewichtig, dass sich in den ersten Lebensjahren die Verbindung der Nervenzellen im Gehirn in weit höherem Maße verdichten als in späteren Jahren und dass die Lernkapazität in dieser Zeit deshalb besonders groß ist. Aber dieses Argument verdeckt die Tatsache, dass es auch ein stark reifungsabhängiges Lernen gibt, so wie dies Piaget immer wieder betont hat. Ein Sauberkeitstraining beispielsweise ist erst möglich, nachdem sich bestimmte Nervenverbindungen herausgebildet haben. Im Ergebnis müssen viele Erkenntnisse der Hirnforschung als noch ungesichert bezeichnet werden, sodass eine angemessene Zurückhaltung ihrer Postulate am dienlichsten erscheint.
3.1.1 Piagets kognitive Entwicklungstheorie
In Kapitel 1.1 ist dargelegt worden, dass die kognitive Entwicklung bereits bei Fröbel und Montessori eine bedeutsame Rolle gespielt hat. Fröbels Bildungsanspruch (1839/1982) manifestiert sich in seiner Pädagogik dort, wo er von Bewusstseinssteigerung oder von kategorialer Bildung spricht und dabei betont, dass der Schule eine frühere geistige Bildung vorauszugehen habe, ohne dass sie die Kinder früher erfassen solle. Bei Montessori zeigt sich der kognitive Fördergedanke dort, wo sie ihr Verständnis des inneren Bauplans um eine Theorie der selektiven Wahrnehmung ergänzt, d. h. um die Vorstellung, dass sich das System der Intelligenzleistung durch die selektive Wahrnehmung und Verarbeitung selbst aufbaut und strukturiert.
Den signifikantesten Einfluss auf die entwicklungspsychologische Forschung hatte jedoch das Werk von Piaget (1981). Mit seinem Denkmodell schuf er eine der |38◄ ►39| bis heute einflussreichsten Theorien des menschlichen Denkens und Schlussfolgerns. Piaget erachtete die kognitive Entwicklung als selbstkonstruktiven Prozess. Dieser entwickelt und vollzieht sich immer durch Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt. Gemäß Piaget entwickelt sich das Denken jedoch nicht kontinuierlich, sondern in Stufen bzw. in Stadien oder Phasen. Jede Phase entspricht einem langen Plateau, während kognitive Veränderungen selten oder moderat sind und von großen, manifesten Veränderungen im Denken abgelöst werden, zugleich aber die nächste Phase andeuten. Piaget unterscheidet die folgenden vier Stufen, wobei für die frühkindliche und vorschulische Entwicklung die ersten beiden Stadien von Bedeutung sind:
• das sensumotorische Stadium (erstes und zweites Lebensjahr),
• das voroperationale Stadium (zweites bis siebtes Lebensjahr),
• das konkret-operationale Stadium (siebtes bis elftes Lebensjahr),
• das formal-operationale Stadium (ab dem elften/zwölften Lebensjahr).
Das erste Hauptstadium ist das sensumotorische, das sich über die beiden ersten Lebensjahre erstreckt. Wie der Name dieses Stadiums verdeutlicht, ging Piaget von der Vorstellung aus, dass Kinder mit allen ihren Sinnen – fühlend, sehend, riechend, tastend – denken. Deshalb sah er in dieser Phase eine Vorstufe zum Denken und bezeichnete diese ersten Vorläufer kognitiver Strukturen als sensumotorische Schemata. Kinder leben in dieser Phase sehr stark im Moment und haben nur ein rudimentäres Verstehen von Raum, Zeit und Kausalität. Am Ende dieser Phase können sie praktische und alltägliche Probleme lösen und ihre Erfahrungen mittels Sprache, Spiel und Gestik darstellen. Unter Schemata verstand Piaget abstrahierte Formen menschlicher Handlungen und Denkprozesse, die sich in ihrer Grundstruktur gleichen und die eine organisierte, sinnstiftende Verarbeitung von Erfahrungen erfordern. Ab dem zweiten Lebensjahr werden auch kognitive Schemata entwickelt, z.B. die Fähigkeit, Dinge aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Farbe oder Größe in «Klassen» zu ordnen.
In der zweiten Stufe, der präoperationalen Stufe, die eine Zeitspanne zwischen dem dritten Lebensjahr und dem Schuleintritt umfasst, müssen Handlungen nicht mehr zwingend physisch vollzogen werden. Sie erfolgen mehr und mehr geistig, was zur Entwicklung des Sprach- und Symbolverständnisses führt. Voraussetzung dafür ist die kindliche Fähigkeit, ein Objekt oder Phänomen durch ein Symbol zu ersetzen. Nach und nach werden die Symbole komplexer und durch abstrakte Zeichen ersetzt. Das können Wörter sein oder Zahlen. Kinder sind auch in der Lage, mentale Symbole zu nutzen. Beispielsweise können sie sich vorstellen, dass im Spiel ein Objekt etwas anderes ist als in der Wirklichkeit. Dennoch ist ihre Fähigkeit, die Symbole in |39◄ ►40| einer organischen Art und Weise zu nutzen, nicht vollständig. Eine Beschränkung besteht beispielsweise in der Tendenz, auf einen Aspekt in einer komplexen Situation zu fokussieren. Wenn wir einem fünfjährigen Kind identische Gläser mit der gleichen Menge Wasser zeigen, dann sagt es, dass diese Mengen die gleichen seien. Wenn jedoch das Kind sieht, dass wir die Inhalte von einem Glas in ein höheres, schmaleres Glas umgießen, dann sagt es, dass im engen Glas nun mehr Wasser sei als im anderen. Das Kind macht diesen Fehler, weil es auf die Höhe des Wassers fokussiert und dabei das andere wichtige Merkmal, die Breite ignoriert. Kinder im präoperationalen Stadium haben auch Schwierigkeiten zu verstehen, dass andere die Welt nicht so wie sie sehen. Dies ist ein Phänomen, das Piaget «Egozentrismus» nannte. Gemeint ist damit eine Haltung junger Kinder, die Welt nur aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen. Dies gilt sowohl für physikalische als auch für soziale und emotionale Phänomene.
Auf der Stufe der konkreten Operationen (sieben/acht bis elf/zwölf Jahre) erwirbt das Kind die Konzepte der Invarianz – eine Voraussetzung des Zahlbegriffs – und der Seriation, d. h., es kann Reihen bilden, erweitern oder unterscheiden. Zudem ist es gemäß Piaget in diesem Entwicklungsstadium in der Lage, logisch über konkrete Dinge nachzudenken. Es weiß nun, dass Wasser, das in verschiedene Gefäße geschüttet wird, in der gleichen Menge vorhanden sein muss, jedoch unterschiedlich aussehen kann. Allerdings haben Kinder in diesem Alter immer noch Schwierigkeiten, über stark abstrakte Simulationen nachzudenken. So haben sie Mühe, differente Konzeptionen der Gerechtigkeit anzusehen oder unterschiedliche Welten zu verwenden, wie sie etwa in den science fictions vorkommen.
Das letzte Stadium der Entwicklung ist das der formalen Operationen, welches mit zwölf Jahren beginnt und bis zum Erwerbsalter dauert. Piaget glaubte, dass Kinder in dieser Phase über pure Abstraktionen nachdenken und ausgeklügelte Denkstrategien anwenden können. Er ging beispielsweise davon aus, dass Kinder in diesem Alter über Moral abstrakt denken und die damit verbundenen Implikationen aus einer unterschiedlichen Sicht von Moralität betrachten können. Ebenso überzeugt war er, dass sie systematisch über komplexe Situationen nachdenken können. Als grundlegend für alle vier Phasen erachtete Piaget folgende Merkmale:
Читать дальше