Exkurs
Jüdisches Leben in Litauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Salomon Malka beschreibt das jüdische Leben in Litauen zu dieser Zeit: » war die Zeit der Jahrhundertwende, als Sprache, Religion und nationale Frage im Zentrum aller Debatten standen, als Emanzipationsgelüste aufkamen, das kulturelle Leben einen Höhepunkt erlebte. In Kaunas wie im übrigen Litauen waren all diese Strömungen lebendig. Ihren deutlichsten Niederschlag fanden sie in einem Netz unterschiedlichst orientierter Schulen, deren Lehrer, seien sie religiös oder laizistisch ausgerichtet, Zionisten oder Jiddischisten, all diese Strömungen widerspiegelten. Diese ganze Skala der Nuancen machte die Besonderheiten der Stadt, machte die Besonderheit Litauens aus. (Malka, 29)
Verfechter der Orthodoxie gab es in Kaunas ebenso wie Anhänger der Haskala, der aus Deutschland stammenden Aufklärung, die mit einem Aufblühen der Wissenschaften und der Künste einherging. Es gab Zionisten, die für die Schaffung einer jüdischen Gesellschaft in Palästina eintraten; und es gab Bundisten, die das jüdische Proletariat mit Hilfe sozialistischer Ideen einigen wollten. Prägend für die Zeit waren die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Chassidismus, einer pietistischen, auf religiöse und mystische Erneuerung abzielenden Strömung und den Anhängern der sog. Litwak-Kultur.
Insgesamt gab es in Litauen vor dem Ersten Weltkrieg rund 40.000 Juden. Auch in Lévinas’ Heimatstadt Kaunas prägten sie das kulturelle Leben stark mit durch jüdische Theatergruppen, Zeitungen sowie jüdische Schulen (vgl. Malka, 28ff.).
Die Familie Lévinas lebte in einem gemäßigten jüdischen Milieu, in dem die Begegnung mit dem Talmud als wichtig erachtet wurde. Ebenso wichtig aber war im Hause Lévinas Literatur. Dies versteht sich nahezu von selbst, bedenkt man, dass der Vater Jehiel eine Buchhandlung betrieb, seine Schwester die russische Stadtbibliothek von Kaunas leitete. Emmanuels Mutter Dwora vermittelte Emmanuel die Liebe zur Literatur, las den Söhnen vor, ermöglichte die Begegnung mit den russischen Dichtern, die den Sohn faszinierten und, wie er selbst sagte, zusammen mit der Bibel zur Philosophie brachten.
»Die Bibel sehr früh, die ersten philosophischen Texte an der Universität […] Aber zwischen der Bibel und den Philosophen: die russischen Klassiker Puschkin, Lermontow, Gogol, Turgenjew, Dostojewsky und Tolstoi, und auch die großen Schriftsteller des westlichen Europa, vor allem Shakespeare, den ich in Hamlet, Macbeth und König Lear sehr bewundert habe. Ist dies eine gute Vorbereitung auf Platon und Kant, die auf dem Programm für das Diplom für Philosophie stehen, wenn man die Kernfrage der Philosophie als die nach dem Sinn des Menschlichen, wie sie Suche nach dem berühmtem ›Sinn des Lebens‹ – nach dem sich die Romanfiguren der russischen Schriftsteller ununterbrochen fragen – versteht?« (EU, 14)
In seiner Jugend erlebte Emmanuel die Unruhen des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution. Die Familie Lévinas war betroffen von den politischen Turbulenzen. Sie emigrierte nach der deutschen Invasion in die Ukraine, Emmanuel besuchte in Charkow das russische Gymnasium, wurde dort als einer von nur fünf jüdischen Schülern aufgenommen.
Exkurs
Litauen im frühen 20. Jahrhundert
Litauen gehörte vor dem Ersten Weltkrieg zum zaristischen Russland, die Stadt Kaunas war zur Zeit, als Lévinas geboren wurde, Hauptstadt einer sog. Gubernja, eines Gouvernements. Litauen war nach der dritten Teilung Polens (1795) zu einer Provinz des Russischen Reiches geworden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verfolgte das zaristische Russland eine völlige Russifizierung: Der Druck litauischer Texte in litauischer Sprache wurde verboten, litauische Schulen wurden geschlossen. Gleichzeitig engagierten sich jedoch Intellektuelle für eine eigene politische und nationale Identität Litauens. Im Jahr 1905 erklärte der Große Wilnaer Landtag die Autonomie des litauischen Staates innerhalb des Russischen Reiches. Litauisch wurde wieder zur offiziellen Sprache.
Während des Ersten Weltkrieges besetzte Deutschland 1915 litauische Gebiete und fasste sie unter der Führung von General Erich Ludendorff zur Verwaltungseinheit Ober-Ost zusammen. Am Ende des Ersten Weltkrieges erklärte der litauische Landesrat (Lietuvos Taryba), die Unabhängigkeit Litauens mit der Hauptstadt Vilnius. Doch Polen meldete territoriale Ansprüche auf die Gebiete rund um Vilnius an und annektierte im Zuge des Polnisch-Litauischen Kriegs (1920) Mittellitauen. Schließlich wurde Kaunas zur Hauptstadt der Ersten Republik, zugleich Zentrum der Kultur und Bildung. In den 20er Jahren entwickelte sich ein reiches und national geprägtes Kulturleben (vgl. Rofall, 342ff., 462ff.; Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen, 58ff.).
1920 kehrte die Familie Lévinas nach Litauen zurück, Emmanuel legte am jüdischen Gymnasium in Kaunas sein Abitur ab und erlebte als junger Mann die kulturelle Blüte und die geistige Offenheit seiner Heimatstadt Kaunas. »I woke up one day and I knew I was a European« – diese Widmung, die er handschriftlich Dr. Moses Schwabe in seinem Buch Vom Sein zum Seienden zukommen ließ, wird als Hommage an einen europäischen Humanismus gedeutet, den er nicht zuletzt diesem deutschen Schulleiter des jüdischen Gymnasium in Kaunas verdankte (vgl. Miething / Wolzogen, 7f.).
Interessiert an der deutschen humanistischen Tradition und ausgestattet mit guten Deutschkenntnissen, bewarb Lévinas sich 1923 um einen Studienplatz für Philosophie an den Universitäten Königsberg, Berlin und im Rheinland. Er erfuhr Ablehnungen – mit der Begründung, dass der Unterricht in einem jüdischen Gymnasium in Litauen kein ausreichendes Niveau aufweise (vgl. Lescouret, 51). Wie bitter, dass er in diesem Land, dessen humanistisches Erbe er studieren wollte, 20 Jahre später den Inbegriff der Inhumanität in einem Lager für jüdische Kriegsgefangene erleben musste!
Wegen der Ablehnungen in Deutschland ging Emmanuel Lévinas zum Philosophiestudium nach Straßburg und begegnete dort einem Freund: Maurice Blanchot, Journalist, Schriftsteller und Literaturtheoretiker.
»Ich glaube, jeder weiß, was ich Emmanuel Lévinas, meinem nunmehr ältestem Freund und dem einzigen, der mich zum Du autorisiert hat, verdanke. Bekannt ist auch, dass wir uns 1926 in Strassburg kennen lernten, wo so viele große Lehrer uns eine keineswegs mittelmäßige Philosophie lehrten. War diese Begegnung dem Zufall geschuldet? Man kann es so sagen. Doch unsere Freundschaft war weder gewagt noch zufällig. Etwas Tiefes ließ uns zueinander finden. Ich würde nicht sagen, dass es bereits das Judentum war, sondern, neben seiner Fröhlichkeit, jene ernste und schöne Art, in der er, ohne jede Pedanterie, die Tiefen des Lebens auslotete.« (Blanchot 1988)
Dabei waren die beiden jungen Männer höchst unterschiedlich: Lévinas war emigrierter Russe und Jude, geprägt von diesem kulturellen Erbe; Blanchot stammte aus gutbürgerlichen französischen Verhältnissen, arbeitete als Journalist an Zeitschriften der extremen Rechten mit. Auch antisemitische Äußerungen sind von ihm überliefert. Die unterschiedliche politische Haltung mag mit ein Grund für eine zunehmende Entfremdung der beiden Freunde gewesen sein. Gleichwohl war es Blanchot, der Lévinas’ Frau und Tochter half, während des Krieges unterzutauchen.
»Wir verließen Straßburg fast zur gleichen Zeit, um nach Paris zu gehen, aber obgleich unser Kontakt nie abriss, bedurfte es doch der Katastrophe eines entsetzlichen Krieges, um unsere Freundschaft, die vielleicht etwas lockerer geworden war, wieder zu festigen. Um so mehr, als Lévinas, der zunächst in Frankreich in Gefangenschaft geriet, mir auf geheimem Weg die Bitte übermitteln ließ, für seine Lieben zu sorgen, die leider von den Gefahren einer abscheulichen Politik bedroht waren.« (Ebd.)
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