Hervorgegangen ist die Arbeiterbewegung nicht aus den verelendeten Schichten des Industrieproletariats; ihre ersten Trägergruppen kamen vielmehr aus der »Arbeiteraristokratie«, waren Handwerkerund Facharbeitergruppen, die sich gegen die Proletarisierung ihrer Arbeits- und Lebenssituation zur Wehr setzten. So gehörten die Buchdrucker zu den frühesten Gewerkschaftsgründern. Aus den bürgerlichen Schichten zur Arbeiterbewegung stoßende Intellektuelle wurden zu ihren wichtigsten Theoretikern (Marx, Engels, Lassalle, Lenin, Trotzki, Luxemburg).
Bei allen Unterschieden der politischen Strömungen war das generelle Ziel der Arbeiterbewegung die soziale und politische Emanzipation der arbeitenden Klasse, die Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Unterprivilegierung und Schaffung einer neuen, gerechten Gesellschaftsordnung. Der Marxismus, der sich als theoretischer Ausdruck der Arbeiterbewegung verstand, gewann auf die sozialistischeArbeiterbewegung Europas erheblichen Einfluss. Als Mitglied des Zentralrats der 1864 in London gegründeten »Internationalen Arbeiterassoziation« (IAA, später »Erste Internationale« genannt) formulierte Marx programmatische Aussagen (z. B. Inauguraladresse und Statuten der IAA). Sie postulierten als historische Aufgabe der Arbeiterbewegung die »Selbstbefreiung« des Proletariats durch Klassenkampf und revolutionäre Eroberung der politischen Macht zwecks Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft. SyndikalistischeRichtungen der Arbeiterbewegung fanden vornehmlich in den romanischen Ländern Rückhalt; sie verwarfen – unter dem Einfluss des Anarchismus und ihrer Theoretiker (Proudhon, Bakunin) – Parlamentarismus, Wahlbeteiligung und politischen Kampf; stattdessen propagierten sie die »direkte Aktion«, letztlich den Generalstreik als »Revolution der gekreuzten Arme«. Sozialreformerischebzw. labouristischeTendenzen zeigten sich früh in der angelsächsischen Arbeiterbewegung; für sie war die pragmatisch-gradualistische Orientierung (Fabianismus) und die grundsätzliche Anerkennung des demokratisch-parlamentarischen Systems einschließlich des Bündnisses mit dem bürgerlichen Liberalismus kennzeichnend. Die christlicheArbeiterbewegung schließlich orientierte sich an der christlichen Soziallehre, die die Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit fordert. – Nach der Russischen Revolution 1917 kam es zur Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung in eine sozialdemokratische und kommunistische mit jeweils eigenen internationalen Vereinigungen (Sozialistische Internationale, Kommunistische Internationale).
Galten die früheren Bemühungen der Arbeiterbewegung der Beseitigung der rechtlichen Restriktionen (Koalitions- und Streikverbot) und der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, dann zielten später die sozialen und politischen Aktivitäten von Gewerkschaften und Arbeiterparteien in den westlichen Demokratien auf die Nutzung der Tarifautonomie und des Wahlrechts als Hebel zur Schaffung eines Systems kollektivvertraglicher und sozialstaatlicher Sicherungen ab, die die Integration der vordem »exterritorialen Klasse« in die Massendemokratien des westlichen Kapitalismus aktiv beförderten. Mehr noch als Sozialstaat und Massenwohlstand haben die Auflösung proletarischer Lebensmilieus und die unaufhaltsame Schrumpfung der traditionellen Industriearbeiterschaft der These vom »Ende der Arbeiterbewegung« (Gorz, Pirker) eine zunehmende Plausibilität verliehen.
Literatur
Abendroth, Wolfgang, 1975: Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. – Braunthal, Julius, 1978: Geschichte der Internationale, 3. Bde., Bonn. – Gorz, André, 1980: Abschied vom Proletariat, Frankfurt a. M. – Grebing, Helga, 1980: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 10. Aufl., München. – Klönne, Arno, 1980: Die deutsche Arbeiterbewegung, Köln. – Kocka, Jürgen, 1983: Lohnarbeit und Klassenbildung, Berlin. – Mooser, Josef, 1984: Arbeiterleben in Deutschland 1900–1979, [25]Frankfurt a. M. – Pirker, Theo, 1984: Vom Ende der Arbeiterbewegung; in: Ebbinghausen, Rolf; Tiemann, Friedrich (Hg.): Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Opladen, 39–51. – Ritter, Gerhard A. (Hg.), 1984 ff.: Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Berlin/ Bonn (bisher erschienen: Bde. 1, 2, 5, 9, 10, 11, 12). – Tennstedt, Florian, 1983: Vom Proleten zum Industriearbeiter, Köln.
Walther Müller-Jentsch
Arbeitsbeziehungen
Die Begriffe Arbeitsbeziehungen oder industrielle Beziehungen sind – in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen synonym verwandte – wörtliche Übersetzungen aus dem Englischen (labour relations, industrial relations). Gebräuchlich sind auch die Begriffe: Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, Sozialpartnerschaft, Konfliktpartnerschaft. In der älteren deutschen Literatur finden sich für den Gegenstandsbereich Umschreibungen wie »Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit« (A. Weber) oder »Die Klassen auf dem Arbeitsmarkt und ihre Organisationen« (Lederer, Marschak) oder einfach »soziale Arbeitsverhältnisse« (Geck).
Arbeitsbeziehungen bezeichnen ganz allgemein die ökonomischen Austausch prozesse und sozialen Konflikt beziehungen zwischen Kapital und Arbeit in einem Betrieb, einem Wirtschaftszweig, einem Land oder einem regulierten transnationalen Wirtschaftsraum (z. B. Europäische Union) sowie die aus diesen Interaktionen resultierenden Normen, Verträge, Institutionen und Organisationen. Ihre Träger bzw. Akteure sind Verbände (Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen), Gruppen (Management, Betriebsrat, teilautonome Arbeitsgruppen) und Personen beider Seiten sowie staatliche Instanzen. Die Kapital und Arbeit repräsentierenden Akteure treten in der Regel als Kontrahenten im doppelten Sinne (Vertragspartner und Gegner) auf. Die staatlichen Instanzen nehmen a) hoheitliche Funktionen wahr (Setzung der institutionellen Rahmenbedingungen durch kollektives Arbeitsrecht, staatliches Schlichtungswesen etc.; Festlegung bestimmter Mindestnormen wie Mindestlohn, tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit und Mindestjahresurlaub), beeinflussen b) als »dritte Partei« den tarifpolitischen Prozess etwa durch einkommenspolitische Daten oder verhandeln c) als Tarifvertragspartei des öffentlichen Dienstes direkt über Lohnsätze und Arbeitsnormen.
Arbeitsbeziehungen haben die kollektive Regelungvon Arbeitsverhältnissen (d. h. Beschäftigungs-, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen) zum Inhalt. Ihr Gegenstandsbereich umfasst 1. den kontrahierten wirtschaftlichen Austausch zwischen Kapital und Arbeit (Lohn gegen Arbeitsleistung), 2. eine daraus resultierende typische Konflikt konstellation, die sich in Arbeits- und Verteilungskonflikten (industrieller Konflikt) manifestiert, und 3. ein historisch gewachsenes Institutionensystem (z. B. Tarifautonomie und Betriebsverfassung), das die Austauschprozesse und Konfliktbeziehungen normativ regelt.
Die kollektiven Regelungen können unterschieden werden in 1. unilaterale, bilaterale und trilaterale, 2. formelle und informelle, 3. substantielle und prozedurale Regelungen.
Zum Kernbestand der Arbeitsbeziehungen gehören die bilateralenRegelungen z. B. zwischen Betriebsrat und Management (Betriebsvereinbarungen) sowie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Tarifverträge). UnilateraleRegelungen können vom Staat (Gesetze, Verordnungen) erlassen, vom Management (Direktionsrecht) angeordnet, aber auch von starken Arbeitergruppen (Arbeiterkontrolle) durchgesetzt, in seltenen Fällen auch von Gewerkschaften der anderen Seite aufgezwungen werden (z. B. Closed Shop). Bei trilateralenRegelungen ist überdies der Staat beteiligt (z. B. Konzertierte Aktionen, Sozialpakte, trilaterale Abkommen). FormelleRegelungen werden meist in Schriftform erlassen, vereinbart oder angeordnet, aber auch förmliche mündliche Anordnungen und Abreden sind ihnen zuzurechnen. Insbesondere im betrieblichen Alltag werden die formellen Regelungen ergänzt, modifiziert, konkretisiert und nicht selten konterkariert durch informelleRegelungen bzw. Normen. Sie füllen einerseits Planungslücken und Koordinationsmängel der Betriebshierarchie durch selbstständige »Belegschaftskooperation« (Frielingshaus) aus und schützen andererseits die abhängig Arbeitenden gegen Leistungsverdichtung und umfassende Management-Kontrolle. SubstantielleRegelungen beziehen sich auf inhaltliche Arbeitsnormen (Arbeitsentgelt, Arbeitsbedingungen); prozeduraleRegelungen sind Verfahrensregeln (z. B. über Mitbestimmung, Schlichtung, Konfliktaustragung).
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