Dennoch waberte dieses Ereignis wie ein Gerücht durch die Indiosiedlung. Man sprach nur hinter vorgehaltener Hand und Théra erlebte, wie die Indios ihr plötzlich hochachtungsvoll, ja voller Verehrung gegenübertraten.
In den nächsten Tagen und Wochen wollte Théra von Papa und Para viel über dieses Ereignis hören, an dem sie teilgenommen hatte, was sie mit ihren zweieinhalb Jahren aber noch nicht völlig verstand.
12.
Es gab noch ein anderes Ereignis, das für Thera in diesem Sommer bedeutend war. Sie stapfte manchmal alleine in Begleitung ihrer beiden Hunde durch die Ansiedlung. Manchmal besuchte sie auch ihre Mutter in der Ausgrabung. Das war ein sehr weiter Weg für ihre kurzen Beine, den sie nur bewältigen konnte, weil sie immer wieder ein Stück des Weges durch den Raum sprang.
Ihre kleine Schwester war inzwischen geboren worden, Mama ging wieder zu ihrer Arbeit in der Ausgrabung und Clara wurde stets mitgenommen.
Es gab rings um die Ausgrabung immer irgendwelche schwer bewaffneten Soldaten, welche genau kontrollierten, wer in die Ausgrabung durfte und wer nicht.
An diesem Tag waren einige neue Soldaten gekommen. Sie hatten Ausweise kontrolliert, aber sie kannten die Gesichter der Arbeiter noch nicht.
Als Théra mit ihren beiden Hunden angestapft kam, hatte sich ihr einer der neuen Soldaten in den Weg gestellt. Sie war gekleidet wie in Indiomädchen. Er hielt sie für die Tochter eines der Arbeiter. Sie hatte hier nichts zu suchen.
Es war an diesem Tag sehr heiß. Er hatte nichts mehr zu rauchen und er war schlecht gelaunt. Er hatte vor zwei Tagen erfahren, dass seine Frau ihn betrog und er durfte diese Ausgrabung nicht verlassen. Alles war Scheiße.
Als dann dieses Mädchen mit den Hunden vor ihm auftauchte, hatte er grob geantwortet, sie solle bloss abhauen und er hatte die Hand erhoben, um diese Gör wegzustoßen.
Mit der Reaktion des großen Hundes hatte er nicht gerechnet. Er sah trottelig aus, dieser große graue Hund. Er bewegte sich wie in Zeitlupe. Ein Drecksköter.
Als der Soldat die Hand hob, sprang der Hund dem Soldaten aus dem Stand direkt an die Kehle. Es war ein gewaltiger Satz. Das war so blitzschnell geschehen, dass keiner der anderen Soldaten eingreifen konnte.
Der Soldat wurde auf den Rücken geworfen, der Hund stand über ihm. Er spürte diesen heissen Atem und das fauchende Knurren. Jetzt bloss keine falsche Bewegung machen, dachte sich der Soldat. Er hörte, wie um ihn herum die Maschinenpistolen entsichert wurden. Er kannte dieses metallische Klick.
Dann rief dieses Mädchen mit einer hellen und klaren Stimme den Hund zurück. Der Soldat sprang auf, er griff nach seiner MP. Er würde diesen Drecksköter erschießen. Er kam nicht dazu. Einer der Soldaten griff ihm in dem Arm, so dass sich die Ladung Kugeln in den Himmel ergoss. „Bist du wahnsinnig“, wurde er angefahren. Das ist die Tochter von Alanque, der Leiterin der Ausgrabung.“
An diesem Tag ging Dennis zu dem Mann und hatte ein langes Gespräch mit ihm. Irgendwann hatte er genickt. „Geh für ein paar Wochen zurück zu deiner Frau. Sorge dafür, dass deine Ehe gerettet wird. Wenn du deine Frau mit hierher bringen willst, so werde ich mit eurem Oberstleutnant reden. Ich werde dafür sorgen, dass ihr irgendwo im Tal eine kleine Hütte bekommt. Villeicht solltest du mit deiner Frau ein Kind machen. Das wirkt manchmal wie ein Wunder.“
Dennis hielt sein Versprechen. Der Soldat wurde verwarnt, er wurde nicht degradiert, er hatte drei anstrengende Wochen, in denen er nach Hause gefahren war, mit seiner Frau sprach, weinte, schimpfte und ihr Geschenke machte. Dann hatte er mit Dennis telefoniert, und durfte mit seiner Frau zusammen eine der Holzhütten beziehen. Es dauerte tatsächlich nicht lange, da wurde seine Frau schwanger.
Dennis ging zu ihm und er nahm Théra und ihre Hunde mit. „Nicht der Hund“, hatte der Soldat gesagt und gemeint, er solle draussen vor der Hütte bleiben.
Dennis hatte den Kopf geschüttelt. „Théra und ihr Hund sind unzertrennlich. Er wird dir nichts tun, wenn du friedlich bist.“
Tatsächlich hatte sich der Hund still und wachsam hinter die Tür gelegt. Er beobachtete den Soldaten und Théra, und als er sicher war, dass nichts böses passieren würde, stand er auf, stellte sich neben den Soldaten, und legte sich dort schließlich mit einem Schnaufer auf den Boden. Théra hatte die Frau angesehen. Sie kletterte ihr auf den Schoss und legte ihr die Hände auf den Bauch. „Du bekommst ein Kind“, hatte sie gesagt. Das war längst bevor die Frau des Soldaten selbst davon wusste. Die Frau hatte unsicher gelacht und Dennis angeschaut. Dennis war zu dem Soldaten gegangen und hatte ihm die Hand geschüttelt.
„Théra weiß stets, was sie sagt“, meinte er. „Ihr werdet erleben, dass Théra eben die Wahrheit gesagt hat. Meinen Segen habt ihr.“
Es wurde an diesem Abend noch mehr gesprochen, aber das vergaß Théra bald.
13.
In diesem Sommer passierten noch einige bedeutende Dinge.
Die Ausgrabung hatte einen riesigen Erfolg. Oben auf dem Berg wurden Dinge gefunden, die viele fremde Menschen ins Tal lockten. Mama hatte viel zu tun.
In dieser Zeit kümmerten sich Para und Papa intensiv um Théra. Manchmal war Papa weg. Er musste ab und zu verreisen. Wohin er dann ging, erzählte er Théra nicht.
Théra sah, wie sich bei der Ausgrabung so etwas wie grosse Gebäude aus der Erde schälten. Viele Mauern und viele Steine. Papa und Para erklärten ihr den Zusammenhang. Jeder mit seinen eigenen Worten. Hier hatte einmal ihre Schwester gelebt, die zur Königin eines großen Reiches geworden war. Lange bevor Théra geboren wurde. Théra begriff, dass sie Teil einer Dynastie mit einer langen Tradition war. Die Kräfte, die sie hatte, sie, Papa und Para, waren ein Teil dieser Geschichte aus Sonnenkönigen.
Théra entwickelte in dieser Zeit viele Fragen.
Mama konnte einige dieser Fragen beantworten. Auf viele Fragen hatte sie keine Antwort. „Dennis und Para wissen darüber viel mehr als ich“, hatte sie Théra gesagt. „Ich grabe diese Dinge nur aus.“
14.
Auch in diesem Winter ging Papa wieder fort. Théra würde bald drei Jahre alt werden. Sie wollte jetzt wissen, warum Papa im Winter fortgeht und sie an ihrem Geburtstag alleine lässt.
Papa war ehrlich. Er erzählte Théra von einer anderen großen Stadt, weit weg. Er erzählte, dass er dort viele Freunde hat. Er erzählte, dass dort viel Musik gemacht wird. Eine ganz andere Musik, wie bei den Quechua, hatte er gesagt. Dann hatte Papa von Conny der Geigerin, von Armando, dem Panflötenspieler und von Fatima, der Sängerin erzählt.
Théra hatte sich erinnert. Das war lange her gewesen, doch dann stieg diese Musik in ihr wieder auf, die sie damals gehört hatte, als Conny, Armando und Fatima das Konzert in „der großen Muschel“ gegeben hatten, dem Konzertsaal des Hotels.
Sie begann plötzlich zu singen, und ihre beiden Hunde stimmten schauerlich schön in den Gesang ein. Papa hatte gelächelt. „Wenn du etwas größer bist, dann nehme ich dich einmal mit nach Berlin. Dann wirst du Conny und Fatima wiedersehen. Du wirst Musik hören, die du noch nie zuvor gehört hast. Ich werde aber erst mit Mama darüber reden. Sie wird traurig sein, wenn du sie im Winter verlässt.“
Dann erzählte Papa von Bübchen, von Moses (dem Koch), von dem kleinen Spanier und anderen Freunden. Sie kommen alle aus Berlin, hatte Papa gesagt. Berlin ist eine sehr große Stadt. Sie ist ganz anders als unsere kleine Stadt hier. Ich werde dich darauf vorbereiten müssen.
Théra hatte ihre Arme um Papa gelegt und war irgendwann eingeschlafen. Sie träumte von einer fernen Stadt und stellte sich vor, dass es dort viele solcher Holzhäuser gab wie die, in der sie mit Papa und Mama lebte.
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