Die Fähigkeit, mit wechselnden Prioritäten gut umzugehen, ist die am häufigsten genannte Motivation für den Einsatz von Scrum. Dicht gefolgt von Transparenz in der Produktentwicklung, besserer Kooperation zwischen Geschäftsbereichen und IT, schnellerer Time-to-Market, höherer Team-Motivation und Produktivität sowie der Verringerung von Risiken und besseren Prognosen in der Produktentwicklung. Wenn Sie auch nur eines dieser Themen interessiert, dann ist dieses Buch für Sie der ideale Einstieg. An einigen Stellen im Text habe ich Verweise auf Bücher und kostenlos verfügbare Spezialliteratur hinzugefügt, falls Sie nach dem Einstieg noch etwas tiefer bohren möchten.
Bei der Benennung und Schreibweise der Scrum-Fachbegriffe folge ich den Übersetzern der deutschen Ausgabe des Scrum Guides vom November 2020. Dort ist auf den letzten zwei Seiten ein Glossar mit den entsprechenden für den deutschen Sprachraum empfohlenen Begriffen veröffentlicht.
Aufgrund des kompakten Buchformats nutze ich bei Pluralformen in der Regel das generische Maskulinum, bei Beispielen im Singular wechsle ich zwischen männlichen und weiblichen Formen. In jedem Fall beziehen sich die Aussagen auf alle Geschlechter.
Viel Erfolg mit Scrum wünscht Ihnen
Dr. Jürgen Hoffmann
www.emendare.de
Um größere Ziele zu erreichen, schließen sich Menschen seit Jahrtausenden in Organisationen zusammen. Über Jahrhunderte strukturierten sich große Organisationen in Einliniensystemen. Jeder Mensch hat genau einen Vorgesetzten und die Kollegen haben eine ähnliche Ausbildung und vergleichbare Tätigkeiten. Frederick Taylor beschreibt in seinem Hauptwerk „The Principles of Scientific Management“ die dazu passende Trennung von Denken und Handeln als die Aufteilung in Aufgaben von Management und Aufgaben der Arbeiterschaft. Er vertrat die Ansicht, dass der Arbeiter nicht fähig wäre, die beste Arbeitsmethode zu finden. Dieses Unterfangen müsse mit wissenschaftlichen Methoden von Spezialisten im Management durchgeführt werden. Scrum hingegen ist ein Ansatz, der das Denken und Handeln wieder an einer Stelle – im Scrum Team – zusammenführt. Ziel ist es, komplexe Probleme der Produktentwicklung schneller zu lösen und aus einer Kommunikation zwischen Bereichen, Abteilungen und Teams – aus der Inter-Team-Kommunikation – eine Intra-Team-Kommunikation zu machen.
1.1Die „Entdeckung“ von Scrum
Traditionelle Produktentwicklung ist mit einem Staffellauf vergleichbar. Spezialisten eines Fachgebiets geben den Staffelstab an die nächsten Spezialisten sequenziell weiter. Takeuchi und Nonaka veröffentlichten 1986 im Harvard Business Review (Takeuchi, 1986) eine Analyse der Produktentwicklungsprozesse erfolgreicher Produkte aus der Mitte der 1970er-Jahre. Sie entdeckten gemeinsame Muster und benutzten Rugby als Metapher für die neue Art der Produktentwicklung, bei der der Entwicklungsprozess aus der ständigen Interaktion von Spezialisten verschiedener Fachrichtungen entsteht. Das multidisziplinäre und handverlesene Team arbeitet von der ersten bis zur letzten Minute der Produktentwicklung zusammen. Der Wechsel zu einem solchen integrierten Ansatz ermöglicht schnelles Lernen und neue Denkansätze auf allen Ebenen der Organisation. Damit ist er auch ein Katalysator für marktangepasste Organisationsveränderungen.
Was hat Scrum mit Rugby zu tun?
Dass Scrum auf die Rugby-Metapher von Takeuchi und Nonaka zurückgeht, verrät schon der Begriff: „Scrum“ ist eine Bezeichnung aus dem Rugby-Sport und bedeutet „Gedränge“.
Nonaka und Takeuchi identifizierten in diversen Firmen wie zum Beispiel Honda, Epson, Fuji-Xerox, Canon und 3M sechs Erfolgsfaktoren. Diese führenden Unternehmen setzten Mitte der 1970er-Jahre mit Scrum auf folgende ineinandergreifende und sich ergänzende Erfolgsfaktoren beim Management ihrer Produktentwicklungsprozesse:
1. Eingebaute Instabilität
Die Unternehmensführung gibt nur ein sehr grobes Ziel oder eine strategische Richtung in Kombination mit herausfordernden Rahmenbedingungen vor. Alle Details bleiben in der Hand des Produktentwicklungsteams, das in einem täglichen Ringen um das tatsächlich Mögliche die Grenzen weitersteckt. Das Team startet aus einem Zustand von „Zero Information“ und erarbeitet sich immer weiter reichendes Wissen.
2. Selbstorganisierende Teams
Man erkennt ein selbstorganisierendes Team an drei charakteristischen Merkmalen:
Autonomie– es hat oder entwickelt alle Fähigkeiten, um zu liefern.
Gegenseitige Inspiration– es besteht aus einer breiten Mischung von Spezialisten und Persönlichkeiten.
Selbsttranszendenz– es reicht über sich selbst hinaus und verschiebt scheinbar unerreichbare Grenzen in der Produktentwicklung immer weiter.
3. Überlappende Entwicklungsphasen
Der sehr herausfordernde Zero-Information-Startpunkt zwingt die Teammitglieder, all ihr Wissen auf den Tisch zu bringen, um gemeinsam den nächsten Schritt zu gehen. Marktinformationen und technische Details spielen von der ersten Minute an zusammen und es entsteht ein gemeinsamer Rhythmus und ein perfektes Zusammenspiel aller beteiligten Experten.
4. Lernen auf allen Führungsebenen und in allen Fachrichtungen
Beschleunigtes individuelles Lernen und Gruppenlernen werden gefördert durch den Blick über den Tellerrand und herausfordernde Ziele, die den äußersten Einsatz von Kreativität fordern. Der Erwerb von Wissen außerhalb der eigenen Spezialisierung wird gefördert und ist erwünscht.
5. Fast unmerkliche Kontrolle
Kontrolle findet nicht durch Kontrolle der Tätigkeiten statt – das Management übt Kontrolle eher über die Gestaltung von Rahmenbedingungen aus. Nonaka und Takeuchi haben folgende Beispiele dafür zusammengestellt:
Wie sind Teams zusammengesetzt?
Unterstützt die Arbeitsumgebung Zusammenarbeit?
Wann haben die Ingenieure das letzte Mal mit einem Kunden gesprochen?
Führung durch Teamziele statt individueller Ziele.
Etablieren einer offenen Fehlerkultur, in der Fehler als Lernmomente begriffen werden.
Das Belohnen der Selbstorganisation von Zulieferern – sie erhalten den Auftrag, Probleme zu lösen, statt vorgedachte Lösungen anzufertigen.
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