Am Ende der Aussprache fragt der Vorsitzende die Mitglieder des Allgemeinen Rates, ob über seinen Vorschlag Konsens bestehe. Mit Ausnahme von Indien äußert sich kein anwesendes WTO-Mitglied ablehnend.
Der Vorsitzende stellt darauf hin fest, dass ein Konsens nicht erreicht werden könne und schlägt vor, über seinen Vorschlag abstimmen zu lassen. Dagegen protestiert Indien in scharfer Form, weil dadurch die geltende Praxis der Entscheidungsfindung im Konsens verletzt würde. Gleichwohl ordnet der Vorsitzende eine Abstimmung an. Der Vorschlag wird mit 75 gegen 3 Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen.
War das Verhalten des Vorsitzenden rechtmäßig?
a) Rechtsstellung und Mitglieder der WTO
219
Die WTO ist eine internationale Organisation, die nach Artikel VIII des WTO-Übereinkommens Rechtsfähigkeit besitzt. Sie ist somit ein eigenständiges Völkerrechtssubjekt.[1] Der Sitz der WTO ist in Genf.
220
Die WTO ist keine UN-Sonderorganisation. Die Verhandlungsführer der Uruguay-Runde haben bei Gründung der WTO – aus politischen Gründen – darauf verzichtet, die WTO formell in die UN-Familie zu integrieren. Damit sind sie der Tradition des GATT 1947 gefolgt, das ebenfalls außerhalb der UN-Familie stand. Während diese Entscheidung zu Zeiten des GATT noch mit dessen umstrittener Organisationseigenschaft und einer bis Mitte der 1980er Jahre begrenzten Mitgliederzahl gerechtfertigt werden konnte, steht nunmehr eine globale Wirtschaftsorganisation außerhalb des rechtlichen Rahmens der Vereinten Nationen. Die WTO unterhält allerdings besondere Beziehungen zur UN und zu einigen UN-Sonderorganisationen, insbesondere zum IWF, zur Weltbank und zur UNCTAD. Aus diesem Grunde dürfte die Stellung der WTO außerhalb des UN-Systems eher von symbolischer Bedeutung sein, da sich durch den formalen Charakter einer UN-Sonderorganisation kaum praktische Veränderungen gegenüber der gegenwärtigen Situation ergäben.
221
Zurzeit zählt die WTO 164 Mitglieder(Stand Oktober 2020).[2] Mitglieder der WTO können nicht nur Staaten sein, sondern auch selbstständige Zollgebiete, sofern sie volle Autonomie über ihre Außenwirtschaftsbeziehungen besitzen (z.B. Hong Kong), Art. XII:1 WTO-Übereinkommen.
222
Die Europäische Union(ursprünglich: die Europäischen Gemeinschaften)[3] ist neben ihren 28 Mitgliedstaaten gem. Art. XI:1 WTO-Übereinkommen ebenfalls eigenständiges Mitglied der WTO. Bei Abstimmungen[4] übt entweder die EU ihr Stimmrecht aus, die dann über so viele Stimmen verfügt, wie sie Mitgliedstaaten hat oder die EU-Mitgliedstaaten stimmen selbst ab, was eine Stimmabgabe durch die EU ausschließt (Art. IX:1 WTO-Übereinkommen).
223
Bei Abschluss der Uruguay-Runde war zwischen den Mitgliedstaaten und der damaligen EG, insbesondere der Kommission, umstritten, ob die EG die ausschließliche Kompetenzzum Beitritt zur WTO hatte oder ob eine geteilte Kompetenz von EG und Mitgliedstaatenbestand. Im Wesentlichen drehte sich der Streit um den Umfang des Begriffs „gemeinsame Handelspolitik“ in Art. 207 AEUV (ex-Art. 133 EGV). Der EuGH entschied in Gutachten 1/94 (WTO), dass die EG und ihre Mitgliedstaaten das WTO-Übereinkommen gemeinsam abschließen und unterzeichnen mussten, da die EG zwar ausschließlich für den Warenhandel zuständig sei, im Bereich der Dienstleistungen und den handelsbezogenen Aspekten des geistigen Eigentums die Mitgliedstaaten jedoch in erster Linie zuständig waren.[5] Es handelt sich bei dem WTO-Übereinkommen somit um ein gemischtes Abkommen.[6]
224
Die WTO-Amtssprachensind Englisch, Französisch und Spanisch. Das WTO-Übereinkommen ist auch nur in diesen Sprachen verbindlich. Die im Bundesgesetzblatt und im Amtsblatt der EU verwendete deutsche Fassungist keine amtliche Übersetzung. Da die deutsche Fassung der WTO-Texte auch teilweise fehlerhaft und missverständlich ist, sollten für eine exakte Lösung von Rechtsfragen stets die authentischen Fassungen herangezogen werden.
[1]
Siehe dazu Teil 1 Rn. 54 f.
[2]
https://www.wto.org/english/thewto_e/whatis_e/tif_e/org6_e.htm.
[3]
Sowohl die Europäische Union (EU) als auch die Europäische Atomenergiegemeinschaft sind formal WTO-Mitglieder. Aus Praktikabilitätsgründen wird im Folgenden jedoch nur von der EU gesprochen.
[4]
Zu Bedeutung von Abstimmungen siehe unten Rn. 236.
[5]
EuGH, Gutachten 1/94, Slg. 1994, I-5267. Mit der früher gültigen Fassung des Art. 133 EGV (Fassung des Vertrags von Nizza) haben die Mitgliedstaaten auf diese Entscheidung reagiert und grundsätzlich eine ausschließliche Zuständigkeit der EG für alle drei Bereiche begründet. Im Dienstleistungshandel besteht allerdings eine gemischte Kompetenz für einige besonders sensible Sektoren (Gesundheit, Bildung, Soziales, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen). Der Vertrag von Lissabon hat diese Ausnahme aufgegeben und überträgt alle Bereiche des Dienstleistungshandels und der handelsbezogenen Aspekte des Schutzes geistiger Eigentumsrechte in die ausschließliche Kompetenz der EU, Art. 207 Abs. 1 AEUV.
[6]
Dazu Streinz, Europarecht, 11. Aufl., 2019, Rn. 1279.
225
Die WTO verfügt über eine relativ einfache Organstruktur, die sich aus der Organstruktur des GATT 1947 entwickelt hat.[1] An ihrer Spitze steht die Ministerkonferenz. Der Allgemeine Rat ist das ständig tagende Beschlussorgan. Daneben existieren verschiedene weitere Räte, Ausschüsse und Arbeitsgruppen. Die WTO verfügt auch über ein Sekretariat unter Leitung des Generaldirektors, das sich aus organisationseigenen Bediensteten zusammensetzt. Ein Exekutivausschuss oder Lenkungsgremium existiert in der WTO ebenso wenig wie eine parlamentarische Versammlung.
226
Die Ministerkonferenz(= Ministerial Conference) ist das höchste Organ der WTO und tritt mindestens alle zwei Jahre zusammen, um die Entwicklung des Welthandels politisch zu koordinieren, Art. IV:1 WTO-Übereinkommen.[2] Sie setzt sich regelmäßig aus den Wirtschafts- oder Handelsministern der WTO-Mitglieder zusammen. Die Ministerkonferenz ist für alle Fragen, die multilaterale Übereinkommen betreffen, zuständig und kann hierzu Beschlüsse fassen. Die Ministerkonferenz ernennt den Generaldirektor der WTO und legt dessen Amtszeit, Aufgaben und Befugnisse fest. Die Ministerkonferenz entscheidet über die Aufnahme neuer Mitglieder (Art. XII:2 WTO-Übereinkommen). Sie hat schließlich die Kompetenz, das WTO-Übereinkommen und die multilateralen Handelsübereinkommen verbindlich auszulegen (Art. IX:2 WTO-Übereinkommen).
Figur 3:
Organstruktur der WTO[3]
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227
Der Allgemeine Rat(General Council) nimmt die Aufgaben der Ministerkonferenz zwischen deren Tagungen wahr (Art. IV:2 WTO-Übereinkommen) und kommt regelmäßig einmal monatlich zusammen. Er ist das zentrale Organ der WTO und kann über alle die Organisation betreffenden Fragen (Beitritte, Ausnahmegenehmigungen, Beziehungen zu den zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen) entscheiden. Der Allgemeine Rat genehmigt den Jahreshaushalt der WTO (Artikel VII WTO-Übereinkommen) und kann ebenfalls verbindliche Auslegungsentscheidungen treffen (Art. IX:2 WTO-Übereinkommen). Er tritt außerdem als Streitbeilegungsgremium (Dispute Settlement Body, DSB) bzw. als Organ zur Überprüfung der Handelspolitiken (Trade Policy Review Body, TPRB) zusammen, Artikel IV:3 und 4 des WTO-Übereinkommens.
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