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Das genaue Verhältnis zwischen der Rechtsordnung des GATT 1947 und der WTO-Rechtsordnungist völkerrechtlich nicht einfach zu bestimmen. Grundsätzlich handelt es sich bei den Abkommen des GATT 1947 und den WTO-Übereinkommen um völkerrechtlich verschiedene Verträge, die in einer Übergangszeit auch nebeneinander existierten. Allerdings sind mit Ausnahme des GATT selbst inzwischen alle multilateralen Übereinkommen der Rechtsordnung des GATT 1947 außer Kraft getreten. Funktional kann man die WTO daher als Nachfolgerin des GATT 1947 bezeichnen.
Merke:
Die Rechtsordnung der WTOtrat nach Abschluss der Uruguay-Runde 1994 an die Stelleder Rechtsordnung des GATT 1947.
[1]
Dazu unten Rn. 210 ff.
Teil 2 Welthandelsrecht› III. Entwicklung des Welthandelssystems› 5. Entwicklung der WTO seit 1995
5. Entwicklung der WTO seit 1995
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Die Entwicklung des Welthandelsrechts ging nach der Gründung der WTO weiter. Zum einen fanden in einigen Dienstleistungssektoren (z.B. Finanzdienstleistungen und Telekommunikation) noch bis Ende 1997 Verhandlungen statt, die im Rahmen der Uruguay-Runde nicht abgeschlossen werden konnten. Zum anderen befinden sich die WTO-Mitglieder nach einem zunächst gescheiterten Versuch im Jahr 1999 nunmehr seit 2001 in einer neuen multilateralen Verhandlungsrunde (sog. Doha Development Agenda).
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Die Weiterentwicklung des Welthandelssystems beruht auf verschiedenen Gründen: Zunächst bestehen auch nach Abschluss der Uruguay-Runde Handelshemmnisse, wie Zölle und Subventionen, an deren Abbau die WTO-Mitglieder interessiert sind. Außerdem verpflichten verschiedene WTO-Vorschriften die Mitglieder zu Verhandlungen über Aspekte, über die in der Uruguay-Runde keine Einigkeit erzielt wurde bzw. die nach den Vorstellungen der Verhandlungsführer der Uruguay-Runde weiterentwickelt werden sollten (sog. „built in“ agenda). Schließlich sind viele Handelsdiplomaten, Politiker und Wissenschaftler generell der Auffassung, dass das multilaterale Handelssystem durch weitere Handelsliberalisierungen ständig in Bewegung gehalten werden muss, damit es nicht zusammenbricht (sog. Fahrrad-Theorie).
a) Die WTO bis zur Ministerkonferenz von Seattle 1999
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Die ersten Jahre der WTO standen im Zeichen der Etablierung und Konsolidierung des neuen Systems. Gleichzeitig wurden jedoch auch Themen aufgegriffen, mit denen das Mandat der WTO über die in der Uruguay-Runde verhandelten Themen hinaus ausgedehnt werden sollte.
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So wurden auf der Ministerkonferenz von Singapur1996 Themen auf die Tagesordnung der WTO gesetzt, an denen die Industrieländer ein besonderes Interesse hatten (Handel und Investitionen, Handel und Wettbewerb, Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen und Handelserleichterung, sog. „Singapore Issues“). Allerdings sollten zu diesen Themen keine Verhandlungen stattfinden, sondern lediglich erste Sondierungen im Rahmen von Arbeitsgruppen. Eine Befassung der WTO mit Sozialstandardsim Welthandel wurde dagegen abgelehnt und auf die Zuständigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für diese Frage verwiesen.
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Keine wesentlichen inhaltlichen Entscheidungen wurden auf der Ministerkonferenz von Genfim Jahr 1998 getroffen. Abgesehen von einer Entscheidung zu elektronischem Handel (e-commerce) stand diese Konferenz ganz im Zeichen des 50-jährigen Jubiläums des Welthandelssystems. Parallel zur Ministerkonferenz fanden die ersten, noch sehr begrenzten, globalisierungskritischen Demonstrationen statt.
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Für die dritte Ministerkonferenz in Seattleim Jahr 1999 war dagegen die Eröffnung einer neuen umfassenden multilateralen Handelsrunde geplant, die den programmatischen Namen Millenniumsrunde ( Millennium Round) tragen sollte. Neben klassischen Themen wie Zollsenkungen und Marktzugang wollten einige WTO-Mitglieder, darunter die EG, im Rahmen der neuen Runde auch über neue Fragen wie Investitionen und Wettbewerb verhandeln.
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Diese Erweiterung der Aufgaben der WTO ging vielen Entwicklungsländernjedoch zu weit. Die in Seattle geschlossener und mit deutlicheren Positionen auftretende Gruppe der Entwicklungsländer war insbesondere nicht bereit, über neue Fragen zu verhandeln, wenn in den Bereichen, die für sie von Interesse waren (Landwirtschaft), kein Fortschritt erzielt werden würde. In Seattle traten zudem die alten Interessensgegensätze zwischen den USA und der EG/EUin Landwirtschaftsfragen erneut zu Tage. Schließlich wurde die Ministerkonferenz von umfangreichen Demonstrationen und Protestenvon Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und Gewerkschaften begleitet, die sich gegen das einseitig auf Handelsliberalisierung gerichtete Mandat der WTO und der neuen Runde wandten. Demonstranten und Polizeikräfte lieferten sich tagelange z.T. gewaltsame Auseinandersetzungen („Battle of Seattle“). Sowohl den internen Gegensätzen als auch den externen Protesten dürfte es geschuldet sein, dass die Ministerkonferenz von Seattle ergebnislos zu Endeging. Das Scheitern der Millenniumsrunde und die in den globalisierungskritischen Protesten sichtbar gewordene weltweite Skepsis gegenüber weiteren Handelsliberalisierungen stürzten die WTO in eine Legitimationskrise.
b) Die Doha Development Agenda
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Nach dem Misserfolg von Seattle wagten sich die WTO-Mitglieder erst Ende 2001 erneut an den Versuch, eine neue Handelsrunde zu eröffnen. Diese sollte zum einen ein gegenüber dem Programm der Millenniumsrunde deutlich reduzierten Umfang haben und zum anderen die Stellung der Entwicklungsländer verbessern. Auf der Ministerkonferenz von Doha (2001)einigten sich die Mitglieder auf eine neue Runde, der der programmatische Titel Doha Development Agenda (DDA) gegeben wurde. In Doha verabschiedeten die WTO-Mitglieder auch eine Erklärung zu TRIPS und öffentlichem Gesundheitswesen, mit der die inhaltliche Klärung einiger Bestimmungen des TRIPS angestrebt wurde, die den Zugang zu dringend von den Entwicklungsländern benötigten Medikamenten betraf.[1]
201
Die Verhandlungen der DDA umfassen eine Reihe von Themenbereichen, wobei jeweils die Interessen von Entwicklungsländern besonders beachtet werden sollten. Zu den wichtigsten Themen zählt der verbesserte Marktzugangfür landwirtschaftliche Produkte und nicht-landwirtschaftliche Produkte. Für landwirtschaftliche Produkte spielt dabei der Abbau von Exportsubventionen und inländischen Unterstützungsmaßnahmeneine zentrale Rolle, während im Bereich nicht-landwirtschaftlicher Produkte nach wie vor der Abbau von Zöllen, insbesondere der sog. Zolleskalationim Mittelpunkt steht. Unter Zolleskalation wird eine Staffelung der Zölle verstanden, bei der für unverarbeitete Produkte niedrigere Zölle gelten als für verarbeitete Produkte. Zolleskalation in Industrieländern behindert insbesondere in Entwicklungsländern die Weiterverarbeitung von Produkten für den Export.
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Ein weiteres wichtiges Element sind die in der DDA integrierten Verhandlungen über die weitere Liberalisierung des Dienstleistungshandels.[2] Andere Verhandlungsthemen betreffen Technologietransfer, Maßnahmen zur Unterstützung der personellen Kapazitäten von Entwicklungsländern (capacity building) und Verschuldung. Daneben finden auch Verhandlungen über regionale Integrationsabkommen und die Reform des Streitbeilegungssystems statt. Die Verhandlungen der DDA werden als sog. „single undertaking approach“geführt, d.h., sämtliche Verhandlungsergebnisse sollen Teil eines Gesamtergebnisses werden.
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