212
Während sich in Anhang 1B und 1C jeweils nur ein Übereinkommen findet, enthält Anhang 1A mehrere Übereinkommen. Das wichtigste ist das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen 1994(GATT), das sich aus dem GATT 1947[4], den Protokollen und Beschlüssen der VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947 (sog. „GATT acquis“) und sechs Vereinbarungen über die Auslegung verschiedener Artikel des GATT[5] zusammensetzt.
213
Neben dem GATT 1994 enthält Anhang 1A folgende zwölf weitere Übereinkommen über den Warenhandel:
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Übereinkommen über die Landwirtschaft |
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Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS)[6] |
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Übereinkommen über Textilwaren und Bekleidung |
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Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (TBT)[7] |
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Übereinkommen über handelsbezogene Investitionsmaßnahmen (TRIMs) |
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Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 (Anti-Dumping-Abkommen)[8] |
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Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 (Zollwertbestimmung) |
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Übereinkommen über Vorversandkontrollen |
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Übereinkommen über Ursprungsregeln |
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Übereinkommen über Einfuhrlizenzverfahren |
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Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (SCM)[9] |
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Übereinkommen über Schutzmaßnahmen[10] |
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Übereinkommen über Handelserleichterungen (Trade Facilitation Agreement): seit 2017[11] |
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Ebenfalls zu den multilateralen Übereinkommen zählen die Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten(Dispute Settlement Understanding, DSU)[12] in Anhang 2 des WTO-Übereinkommens und der Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik(Trade Policy Review Mechanism, TPRM), in Anhang 3.
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Zu den plurilateralen Handelsübereinkommenin Anhang 4 gehören das Übereinkommen über den Handel mit Zivilluftfahrzeugenund das Übereinkommen über das Öffentliche Beschaffungswesen(Government Procurement Agreement, GPA), das im Jahre 2012 revidiert wurde und dessen Änderungen im April 2014 nach Ratifikation von 2/3 der GPA-Vertragsparteien in Kraft getreten sind.
216
Das Streitbeilegungsübereinkommen DSU, der handelspolitische Überprüfungsmechanismus TPRM und die institutionellen Rahmenvorschriften des WTO-Übereinkommens gelten für alle materiell-rechtlichen Übereinkommen und können als gemeinsames Dach des materiell-rechtlichen Rechts verstanden werden.[13] Lässt man die plurilateralen Abkommen aufgrund ihrer geringen Mitgliedschaft außer Betracht, unterteilt sich das materiell-rechtliche Welthandelsrecht in die drei Bereiche Waren, Dienstleistungen und handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums. Bildlich lässt sich die Struktur des WTO-Übereinkommens dann mit folgendem Drei-Säulen-Modelldarstellen:
Figur 2:
Drei-Säulen-Modell der WTO
[Bild vergrößern]
217
Nicht alle Übereinkommen der WTO-Rechtsordnung sind von gleicher wirtschaftlicher und praktischer Bedeutung. Neben dem WTO-Übereinkommen selbst ist das Streitschlichtungsübereinkommen in institutioneller Hinsicht besonders wichtig. Der Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik, mit dem regelmäßig die Wirtschafts- und Handelspolitik eines WTO-Mitglieds durch die anderen Mitglieder begutachtet wird, ist dagegen weniger bedeutsam. In materiell-rechtlicher Hinsicht sind neben den drei Hauptabkommen GATT, GATS und TRIPS vor allem das TBT- und SPS-Übereinkommen, die Übereinkommen über handelspolitische Maßnahmen (Anti-Dumping-, Subventions- und Schutzmaßnahmen-Übereinkommen) sowie das Übereinkommen zur Landwirtschaft wichtig.
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Das Verhältnisder einzelnen Übereinkommen der WTO-Rechtsordnung zueinander ist wie folgt geregelt: Nach Art. XVI:3 des WTO-Übereinkommens hat das WTO-Übereinkommenbei einem Konfliktfall Vorrang gegenüber den multilateralen Handelsübereinkommender Anhänge 1-3. Für die materiell-rechtlichen Übereinkommen besteht lediglich eine Regel für den Konfliktfall zwischen dem GATT und den anderen Übereinkommen über den Warenhandel. Nach der allgemeinen Auslegungsregel zu Anhang 1 A sind im Konfliktfall die Bestimmungen der anderen Übereinkommen maßgebend, d.h. den speziellen Übereinkommen über den Warenhandelist ein Vorrang vor dem GATTeinzuräumen. Eine Anwendung der allgemeinen Regeln ( lex posterior, lex specialis [14]) auf die übrigen Konfliktfälle dürfte daran scheitern, dass alle WTO-Übereinkommen am gleichen Tag in Kraft getreten sind (1.1.1995) und auch größtenteils Materien betreffen, die sich nicht überschneiden. Konflikte sollten daher bereits durch eine entsprechende Interpretation der jeweiligen Übereinkommen vermieden werden.
[1]
BGBl. 1994 II, S. 1625; ABl. 1994 L 336/3 = Sartorius II, Nr. 500 = WTO Beck-Texte, Nr. 1 = Völker- und Europarecht, C.F. Müller, Nr. 100.
[2]
Dazu unten Rn. 438 ff.
[3]
Dazu unten Rn. 497 ff.
[4]
Dazu oben Rn. 175 ff.
[5]
Vereinbarung zur Auslegung des Artikels II Absatz 1 Buchstabe b) des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994, Vereinbarung zur Auslegung des Artikels XVII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 (Staatshandelsunternehmen), Vereinbarung über Zahlungsbilanzbestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994, Vereinbarung zur Auslegung des Artikels XXIV des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994, Vereinbarung über Befreiungen von Verpflichtungen nach dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen 1994 („waiver“), Vereinbarung zur Auslegung des Artikels XXVIII des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994, Vereinbarung zur Auslegung des Artikels XXXV des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994.
[6]
Dazu unten Rn. 366 ff.
[7]
Dazu unten Rn. 384 ff.
[8]
Dazu unten Rn. 403 ff.
[9]
Dazu unten Rn. 414 ff.
[10]
Dazu unten Rn. 425 ff.
[11]
Dazu oben Rn. 207.
[12]
Dazu unten Rn. 240 ff.
[13]
Das DSU gilt für plurilaterale Übereinkommen nur, wenn die Mitglieder dieser Übereinkommen einen dahingehenden Beschluss gefasst haben (siehe Appendix 1 des DSU).
[14]
Dazu Teil 1 Rn. 70.
Teil 2 Welthandelsrecht› IV. Allgemeines WTO-Recht› 2. Institutionelles Recht
2. Institutionelles Recht
Ausgangsfall
Zur Vorbereitung für die nächste WTO-Ministerkonferenz soll im Allgemeinen Rat der Entwurf für ein Abschlussdokument verabschiedet werden. Über weite Teile des Textes besteht Einigkeit unter den Mitgliedern der WTO. Eine Reihe von Entwicklungsländern äußern jedoch Bedenken und Kritik an einer Textpassage zu den Verhandlungen im Landwirtschaftssektor. Nach ihrer Meinung wird darin zu wenig auf die Belange der Entwicklungsländer Rücksicht genommen. Nach informellen Konsultationen mit einigen der Kritiker schlägt der Vorsitzende des Allgemeinen Rates eine Kompromissformulierung vor, die in der folgenden Aussprache allerdings immer noch von vier Ländern, darunter Indien, kritisiert wird.
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