Die weitaus meisten Grundrechte sind Freiheitsrechte. Mit den prüfungsrelevantesten Freiheitsrechten werden wir uns nun im Folgenden näher befassen.
3. Teil Freiheitsrechte› A. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
A. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
3. Teil Freiheitsrechte› A. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)› I. Bedeutung und Grundrechtscharakter
I. Bedeutung und Grundrechtscharakter
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Die Menschenwürde ist in Art. 1 Abs. 1 GG garantiert. Schon ihre herausgehobene systematische Stellung am Anfang des Grundgesetzes und zugleich an der Spitze des Grundrechtskataloges in Abschnitt I des Grundgesetzes unterstreicht die Stellung der Menschenwürde als „oberster Wert“des Grundgesetzes.[1] Die Menschenwürde steht damit im Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertesystems.[2] Dies hat zur Folge, dass Art. 1 Abs. 1 GG die Bedeutung der anderen Bestimmungen im Grundgesetz beeinflusst. Viele Grundrechte sind Ausfluss der Menschenwürde und daher stets im Lichte dieses tragenden Verfassungswertes auszulegen.[3] Dies gilt v.a. für das durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht (s.u. Rn. 191 f.). Die besondere Bedeutung der Menschenwürde im grundgesetzlichen Gefüge zeigt sich auch darin, dass sie unter die sog. „Ewigkeitsklausel“des Art. 79 Abs. 3 GG fällt. Die Menschenwürde kann danach nicht durch eine Verfassungsänderung eingeschränkt werden.
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Überlegen Sie, bevor Sie im Text weiterlesen, zunächst selbst, ob Art. 1 Abs. 1 GG überhaupt ein Grundrecht sein kann! Was könnte dafür und was dagegen sprechen?
Ob es sich bei der Menschenwürde überhaupt um ein Grundrecht handelt, ist nicht unumstritten.[4] Dagegen wird z.B. vorgebracht, diese Bestimmung habe bereits nach ihrem Wortlaut lediglich programmatischen Charakter. Als systematisches Argument wird zudem Art. 1 Abs. 3 GG angeführt und unter Berufung auf dessen Wortlaut darauf hingewiesen, die öffentliche Gewalt sei an die „nachfolgenden“ Grundrechte gebunden; Art. 1 Abs. 1 GG sei demnach nicht erfasst. Dagegen wendet die h.M., angeführt vom Bundesverfassungsgericht , jedoch vor allem ein, sowohl die Überschrift des Abschnitt I mit dem Titel „Die Grundrechte“ als auch Art. 142 GG, der besagt, dass ungeachtet der Vorschrift des Art. 31 GG Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft bleiben, als sie in Übereinstimmung mit den Art. 1 bis 18 GG Grundrechte gewährleisten, belege die Grundrechtsqualität auch der Menschenwürde.
JURIQ-Klausurtipp
Ob Art. 1 Abs. 1 GG ein Grundrecht enthält, ist praktisch an sich allein nur für die Frage relevant, ob jemand die Verletzung dieser Bestimmung mittels Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG geltend machen kann. Grundsätzlich wird Ihnen auch diese Frage keine Schwierigkeiten bereiten, weil Sie regelmäßig eine Fallkonstellation zu prüfen haben werden, in der nicht allein die Verletzung der Menschenwürde, sondern gleichzeitig die Verletzung auch anderer Grundrechte in Betracht kommt. Sind die Verletzungen dieser anderen Grundrechte zulässigerweise gerügt worden, muss das Bundesverfassungsgericht auch eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG prüfen. – Sollte demgegenüber ausnahmsweise tatsächlich allein eine Verletzung der Menschenwürde in Rede stehen, stellen Sie den Meinungsstreit zu Beginn Ihrer Prüfung fallbezogen dar und schließen sich – nicht nur klausurtaktisch empfehlenswert – der h.M. an.
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Qualifiziert man mit der h.M. Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht, prüfen Sie eine Verletzung der Menschenwürde wie die Verletzung jedes anderen Abwehrrechts:
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
I. Eröffnung des Schutzbereichs
1.Sachlicher Schutzbereich
a)Menschenwürde
Begriff der Menschenwürde Rn. 176
b)Relevante Fallkonstellationen
2.Persönlicher Schutzbereich
II. Eingriff in den Schutzbereich
3. Teil Freiheitsrechte› A. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)› II. Schutzbereich
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Zunächst prüfen Sie, ob der sachliche Schutzbereich und der persönliche Schutzbereich der Menschenwürde eröffnet sind.
1. Sachlicher Schutzbereich
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Die Eröffnung des sachlichen Schutzbereichs prüfen Sie in zwei Schritten:
a) Begriff der Menschenwürde
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Im ersten Schritt gilt es, den Begriff der Menschenwürde zu klären. Was unter dem Begriff der „Menschenwürde“ konkret zu verstehen ist, ist nicht leicht zu bestimmen. Dementsprechend schwierig ist es, den sachlichen Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG allgemein zu definieren. Es gibt verschiedene Ansätze, den sachlichen Schutzbereich zu beschreiben:[5] Positiv wird er beschrieben als der „allgemeine Eigenwert, der dem Menschen kraft seiner Persönlichkeit zukommt“.[6] Meist wird er – im Anschluss an Dürig – negativ beschrieben. Danach darf der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht und nicht einer Behandlung ausgesetzt werden, die seine Subjektsqualität prinzipiell in Frage stellt (sog. Objektformel).[7] Gelegentlich werden diese beiden Beschreibungen auch kombiniert. Der Schutzbereich der Menschenwürde wird dann beschrieben als der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt.[8] Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutzbereich der Menschenwürde in einer jüngeren Entscheidung wie folgt beschrieben: Jeder Mensch besitze als Person eine Würde ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen und seinen sozialen Status.[9] Es verzichtet damit ebenfalls auf eine abstrakte Definition der Menschenwürde und bestimmt sie vielmehr anhand der Objektformel im konkreten Einzelfall.[10]
JURIQ-Klausurtipp
In der Fallbearbeitung sollten Sie einen Ansatz wählen, der die sog. Objektformel (mit-)enthält. So verfährt auch das Bundesverfassungsgericht . Obwohl Sie den Schutzbereich hierbei bereits vom Eingriff her bestimmen, ist ein solcher Ansatz gerade für die Fallbearbeitung praktikabel.
b) Relevante Fallkonstellationen
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Im zweiten Schritt gehen Sie der Frage nach, ob die so bestimmte Menschenwürde in Ihrer Fallbearbeitung relevant ist. Die Menschenwürde kann in vielen Konstellationenrelevant werden. Hierzu gehören z.B. folgende aktuelle Fälle:[11]
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Verletzung der körperlichen Identität oder Integrität |
Beispiele
Sog. Gefahrenabwendungsfolter: Um das Versteck einer entführten Geisel, die die Polizei noch am Leben glaubt, zu erfahren, soll der mutmaßliche Entführer unter Gewaltandrohung dazu veranlasst werden, das Versteck der Geisel preiszugeben.[12] – Sog. „wrongful birth“ bzw. „wrongful life“ bzw. „Kind als Schaden“: Die Zivilgerichte bejahen eine Schadensersatzhaftung von Ärzten, die eine fehlgeschlagene Sterilisation oder eine fehlerhafte genetische Beratung vor der Zeugung eines Kindes zu verantworten haben, gegenüber den betroffenen Eltern für entstehende Unterhaltspflichten. Zwischen den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts ist umstritten, ob die Haftung des Arztes gegen die Menschwürde verstößt.[13] – Heimliche Vaterschaftstests.[14]
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