199
Der Begriff der öffentlichen Gesundheit wird darüber hinaus in Art. 9 Abs. 2 lit. inäher beschrieben: Erwähnt werden schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren, wozu neben übertragbaren Krankheiten unter anderem auch Gefahren chemischen Ursprungs und Gefahren unbekannten Ursprungs zählen.[331] Zudem wird die Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gesundheitsversorgung und bei Arzneimitteln und Medizinprodukten erfasst.[332]
200
Zu beachten ist insofern, dass ErwG 54, sowie die konkretisierenden Beispiele aus Art. 9 Abs. 2 lit. i, keine abschließende Aufzählungdarstellen. Vielmehr dient die Nennung von Beispielen der Erleichterung der Rechtsanwendung.[333]
201
Anders als im Rahmen des Art. 9 Abs. 2 lit. gist ausweislich des Wortlauts des Art. 9 Abs. 2 lit. iein „einfaches“ öffentliches Interesse im Bereich der öffentlichen Gesundheit ausreichend.
202
Folglich erfasst der Anwendungsbereich des Ausnahmetatbestandes alle Maßnahmen zur Förderung der öffentlichen Gesundheit, etwa durch Maßnahmen der Aufklärung und Prävention von Krankheiten. So ist auch im Rahmen der Nutzung von sog. Corona-Appsan den Erlaubnistatbestand aus Art. 9 Abs. 2 lit. izu denken. Da die Nutzung derartiger Apps aktuell freiwillig erfolgt,[334] hat die Prüfung der Voraussetzungen von Art. 9 Abs. 2 lit. aVorrang (dazu Rn. 131). Darüber hinaus liegt der Schutz der Bürger vor Gesundheitsgefahrenim Anwendungsbereich, so dass insbesondere die Meldepflichten im Infektionsschutzgesetzerfasst werden.[335] In diesem Zusammenhang stellt sich wie im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. gdie Frage, ob dementsprechend die etwa Verweigerung einer Impfung, aus der Gefährdungen für Dritte entstehen können, dem Anwendungsbereich des Ausnahmetatbestandes unterfallen. Jedenfalls werden Krankheitsregister zur Analyse und Prävention von Gesundheitsgefahren dem Ausnahmetatbestand unterfallen. Darüber hinaus werden auf nationaler Ebene etwa die Regelungen des Arzneimittelgesetzes(AMG) oder des Medizinproduktegesetzes(MPG) erfasst.[336] Ferner erfasst Art. 9 Abs. 2 lit. iFälle, in denen es um die Vermeidung von Pandemien oder Epidemiengeht.
203
Darüber hinaus müssen die unions- oder mitgliedstaatlichen Regelungen angemessene Garantien zur Wahrung der Rechte und Freiheitender betroffenen Person enthalten. Insofern gelten die Ausführungen aus Art. 9 Abs. 2 lit. b(vgl. Rn. 132 ff.) entsprechend.
j) Archivierungs-, Forschungs- und statistische Zwecke ( Art. 9 Abs. 2 lit. j)
204
Eine Verarbeitung sensibler Daten für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke gem. Art. 89 Abs. 1 ist nach dem Ausnahmetatbestand des Art. 9 Abs. 2 lit. jzulässig, wenn das mitgliedstaatliche Recht im angemessenes Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht.
205
Insofern wird ergänzend auf die Ausführungen im Rahmen von Art. 89verwiesen.[337]
Art. 9 Abs. 2 lit. jfindet seine Vorgängerregelung in Art. 6 Abs. 1 lit. e DSRL, der sich allerdings auf personenbezogene Daten im Allgemeinen und nicht auf besondere Kategorien personenbezogener Daten bezog.[338]
206
Art. 9 Abs. 2 lit. jenthält wie Art. 9 Abs. 2 lit. ieine Öffnungsklausel. Insofern dürfen die Mitgliedstaaten durch nationale Regelungen die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten zu den in Art. 9 Abs. 2 lit. jgenannten Zwecken erlauben.[339]
207
Die Aufzählung der zulässigen Zwecke, die im öffentlichen Interesse liegen, sind im Ausnahmetatbestand abschließendgeregelt.[340]
208
Hierbei ist zu beachten, dass die Verarbeitung für Archivzwecke, wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke sowie für statistische Zwecke im öffentlichen Interesseerfolgen muss. So verweist ErwG 53 S. 1 a.E.beispielhaft auf Studien im Bereich der öffentlichen Gesundheit.
209
Hinsichtlich der Archivzwecketrifft ErwG 158 S. 1konkretisierende Aussagen: Archivzwecke umfassen dabei jede Behörde oder öffentliche sowie private Stelle, die Aufzeichnungen von öffentlichem Interesse führen, wobei das Führen auch den Erwerb, die Bewertung, den Erhalt und die Bereitstellung umfasst. Insofern liegt nach ErwG 158 S. 2die Bereitstellung spezifischer Informationen im Zusammenhang mit dem politischen Verhalten unter ehemaligen totalitären Regimen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere dem Holocaust und Kriegsverbrechen im öffentlichen Interesse. Auf nationaler Ebene werden die im öffentlichen Interesse liegenden Archivzwecke etwa durch das Bundesarchivgesetzgeregelt.[341] So verwahrt das Bundesarchiv Unterlagen, die von bleibendem Wert für die Bundesrepublik sind. Dies erfasst etwa die Unterlagen der öffentlichen Stellen des Bundes, aber auch Unterlagen der Stellen der Deutschen Demokratischen Republik sowie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (vgl. dazu § 3 Abs. 2 BArchG). Insofern fällt die Verarbeitung der sensiblen Daten von ehemaligen Funktionären in den alten Regimen unter den Ausnahmetatbestand.
210
Der Begriff der Verarbeitungen für wissenschaftliche oder historische Forschungszweckeist laut ErwG 159 S. 2 weit auszulegen und vermag dabei etwa die Verarbeitung für die technologische Entwicklung und die Demonstration, die Grundlagenforschung, die angewandte Forschung und die privat finanzierte Forschung einzuschließen. Wissenschaftliche Forschungszwecke sind darüber hinaus in Art. 13 GRCh (Art. 5 Abs. 3 GG) geschützt. Insofern wird ausweislich des ErwG 159 S. 3dem Ziel, einen europäischen Raum der Forschung zu schaffen, Rechnung getragen. Dafür werden auch Studien, die im öffentlichen Interesse im Bereich der öffentlichen Gesundheit stattfinden erfasst. Insofern sollten nach ErwG 159 S. 5 um den Besonderheiten der Verarbeitung personenbezogener Daten zu wissenschaftlichen Forschungszwecken Rechnung zu tragen spezifische Regelungen insbesondere hinsichtlich der Veröffentlichung oder sonstigen Offenlegung von personenbezogenen Daten im Kontext wissenschaftlicher Zwecke gelten.
211
Der Begriff der Forschungumfasst dabei in Anlehnung an die verfassungsrechtliche Definition „alles, was als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“. Zum Begriff der wissenschaftlichen Forschung vgl. ausführlich Art. 89 Rn. 21f.
212
Eine unabhängige Forschung mit Verarbeitung sensibler Daten kann sowohl durch den Verantwortlichen als durch Externe durchgeführt werden.
213
Dem Begriff der historischen Forschungszweckekommt in diesem Zusammenhang in erster Linie eine ergänzende Funktion zu, zumal es in diesem Anwendungsfall häufig zu inhaltlichen Überschneidungen mit dem Begriff der Archivzwecke kommen wird.[342] In praktischer Hinsicht ist dies für die Einschlägigkeit des Ausnahmetatbestands freilich ohne Belang. Vgl. dazu auch Art. 89 Rn. 37.
214
Bei der Verwendung und Verarbeitung von Gesundheitsdateni.S.d. Art. 9 Abs. 1für Forschungszwecke[343] kann nicht nur auf Art. 9 Abs. 2 lit. j, sondern auch auf die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. hoder Art. 9 Abs. 2 lit. izurückgegriffen werden.[344]
215
Hinsichtlich der Forschungszwecke ist in der Praxis insbesondere bedeutsam, dass der Bezug zu einem „öffentlichen Interesse“ der Forschungszwecke nicht übersehen werden darf. Insofern wird zwar auch die privat finanzierte Forschung vom Anwendungsbereich erfasst, gleichwohl fallen rein kommerzielle Forschungszweckeprivater Forschungseinrichtungen somit nicht unter den Ausnahmetatbestand.[345] Auch die Tätigkeit von Hochschulen und Hochschullehrern fällt unter den Begriff der wissenschaftlichen Forschung. Die datenschutzrechtliche Zulässigkeit richtet sich dabei allerdings vorrangig nach § 3 BDSGbzw. der jeweiligen datenschutzrechtlichen Generalklauseln der Landesdatenschutzgesetze (z.B. § 3 DSG NRW).[346]
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