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Daneben wird Art. 9 Abs. 2 lit. fauch im Rahmen der Verarbeitung von sensiblen personenbezogenen Daten durch die Justizrelevant, sofern nicht der Anwendungsbereich der vorrangigen JI-Richtlinie tangiert ist.[296] Dies betrifft etwa den Versand von Schriftsätzen oder den Umgang mit Daten von Verfahrensbeteiligten.[297] Im Rahmen gerichtlicher Tätigkeiten ist dabei entsprechend § 1 Abs. 1 BDSGsorgsam zwischen Bundesgerichten und den Gerichten der Länder zu unterscheiden, die eine Anwendbarkeit des jeweiligen Landesdatenschutzgesetzes zur Folge haben.[298] Daneben sind die Vorschriften des Prozessrechts zu beachten, denen auch datenschützende Funktion zukommt (etwa Recht auf Akteneinsicht gem. §§ 299 ZPO, 100 VwGO).[299] Vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung zur gemeinsamen Verantwortlichkeit[300] ist sorgsam zu prüfen, ob das Gericht oder der jeweilige Spruchkörper datenschutzrechtlich verantwortlich ist und inwieweit eine gemeinsame Verantwortlichkeit für die Datenverarbeitung besteht.[301]
g) Erhebliches öffentliches Interesse ( Art. 9 Abs. 2 lit. g)
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Gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. ggilt das Verbot der Verarbeitung sensitiver Daten aus Art. 9 Abs. 1nicht, soweit die Verarbeitung aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich ist. In einem solchen Falle kann die Verarbeitung auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaates, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, zulässig sein.
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Art. 9 Abs. 2 lit. gentspricht dabei Art. 8 Abs. 4 DSRL. Die Parallelnorm für personenbezogene Daten, die keiner besonderen Kategorie unterfallen findet sich in Art. 6 Abs. 1 lit. e.
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Zu beachten ist, dass Art. 9 Abs. 2 lit. gim Wesentlichen aufgrund seiner generalklauselartigen Formulierung keinen eigenständigen Erlaubnistatbestand darstellt. Es handelt sich vielmehr um eine Öffnungsklauseldergestalt, dass konkretisierende Normen der Union oder der Mitgliedstaaten den Begriff des öffentlichen Interesses ausfüllen und infolge dessen der Ausnahmetatbestand Anwendung finden kann.[302]
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Letztlich findet daher im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. geine umfassende Abwägungzwischen den Interessen der Öffentlichkeit und den aus dem Datenschutzrisiko für den Betroffenen resultierenden schutzwürdigen Belangen anhand der konkretisierenden Normen statt.[303] Insofern wird die Reichweite des Ausnahmetatbestandes weitgehend von der Inanspruchnahme der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten determiniert. In der Praxis wird der Ausnahmetatbestand daher insbesondere im GefahrenabwehrrechtBedeutung erlangen.[304] Gleichwohl ist zu beachten, dass die Regelung nicht auf eine bestimmte Materie beschränkt ist, so dass Art. 9 Abs. 2 lit. gder weiteste Anwendungsbereichim Rahmen des Art. 9 Abs. 2zukommt.[305]
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Der Begriff des öffentlichen Interesseswird durch die DS-GVO selbst nicht definiert.
Ein öffentliches Interesse liegt daher dann vor, wenn ein Interesse der gesamten Bevölkerung oder zumindest eines weiten Teils dieser und damit ein Interesse der Allgemeinheit vorliegt.[306] Demzufolge werden bloße Einzel- oder Privatinteressen aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert. Dies schließt freilich nicht aus, dass Interessen der Allgemeinheit gleichzeitig Einzelinteressen sein können (etwa Hilfe zu humanitären Zwecken).[307] Folglich stellt auch ErwG 46 S. 3klar, dass einige Arten der Verarbeitung sowohl wichtigen Gründen des öffentlichen Interesses als auch lebenswichtigen Interessen der betroffenen Person dienen können und nennt dabei etwa die Verarbeitung für humanitäre Zwecke einschließlich der Überwachung von Epidemien und deren Ausbreitung oder humanitäre Notfälle im Falle von Naturkatastrophen. Entscheidend ist daher die Abwehr erheblicher Nachteileoder die Wahrung erheblicher Belange des Allgemeinwohls, wie etwa die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, die Gefahrenabwehr oder die Sicherstellung der öffentlichen Gesundheit.[308]
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Darüber hinaus müssen die unions- oder mitgliedstaatlichen Regelungen angemessene Garantien zur Wahrung der Rechte und Freiheitender betroffenen Person enthalten. Insofern gelten die Ausführungen aus Art. 9 Abs. 2 lit. b(vgl. Rn. 132 f.) entsprechend.
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In diesem Zusammenhang ist insbesondere eine Abgrenzung zu dem Begriff des öffentlichen Interesses aus Art. 6 Abs. 1 lit. e erforderlich. Während im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 lit. edie Datenverarbeitung lediglich an die Voraussetzung einer Aufgabenwahrnehmung im öffentlichen Interesse knüpft und damit letztlich jede öffentliche Aufgabe ausreichend ist, liegen die Anforderungen im Rahmen von Art. 9 Abs. 1höher.[309] Insofern muss im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. gentsprechend seinem Wortlaut eine bestimmte Erheblichkeitsschwelleüberschritten werden, die Bagatellfälle ausklammert und so die Verarbeitung sensitiver Daten einer spezifischen Legitimation unterwirft, um den Ausnahmecharakter der Vorschrift nicht zu entwerten.
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Dabei ist aber unklar, wo diese Erheblichkeitsschwelle im Einzelfall anzusiedeln ist. Auch ist fraglich, ob mit dem Begriff der „öffentlichen Interessen“ und der „Allgemeinheit“ stets die Voraussetzung verbunden ist, dass eine Gefahr für mehrere Personen besteht oder ob auch Gefahren für lebenswichtige Interessen des Einzelnen eine Anwendung des Ausnahmetatbestandes rechtfertigen können.
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Gerade vor dem Hintergrund einer Ausfüllung des Ausnahmetatbestands durch das Recht der Mitgliedstaaten können hier erhebliche praktische Probleme, insbesondere hinsichtlich des Gefahrenabwehrrechtsentstehen.
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Insbesondere wenn es um die Verarbeitung von Gesundheitsdatengeht, kann es so zu Verzahnungen mit dem Gefahrenabwehrrecht kommen. Denkbar sind hier etwa Fälle eines angedrohten Suizides eines Nutzers bei Facebook.[310] Nach nationalem Recht kann auch ein (angedrohter) Suizid eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung begründen. Darüber hinaus nimmt ErwG 46 S. 3 auch ausdrücklich auf die lebenswichtigen Interessen des Einzelnen Bezug. Diese Überlegungen sind dabei auf Selbstgefährdungen übertragbar (wie etwa die Ankündigung eines Nutzers in sozialen Netzwerken lebensgefährliche Handlungenvorzunehmen, wie z.B. „S-Bahn-Surfing“). Daneben kommen Fälle in Betracht, in denen sich der Betroffene einer Impfung verweigert und dadurch Dritte gefährdet. Eine Gefahr für die Allgemeinheit entsteht darüber hinaus im Falle des Fahrens eines Kraftfahrzeugs im alkoholisierten Zustandoder Fahrten unter Drogeneinfluss. In diesen Fallgruppen geht es stets um lebenswichtige Interessen und damit um hochrangige und besonders schützenswerte Rechtsgüter, die nach nationalem Recht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen. Bei konsequenter Anwendung der Öffnungsklausel müssen diese Fallgruppen folglich eine Anwendung des Ausnahmetatbestandes des Art. 9 Abs. 2 lit. grechtfertigen können.
h) Gesundheitsversorgung ( Art. 9 Abs. 2 lit. h)
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Der Ausnahmetatbestand des Art. 9 Abs. 2 lit. hnormiert die datenschutzrechtliche Zulässigkeit der Versorgung und Behandlung im Gesundheits- und Sozialbereich, der medizinischen Diagnostik, der Gesundheitsvorsorge sowie des gesamten Bereichs der Arbeitsmedizin zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Beschäftigten. Dabei enthält auch Art. 9 Abs. 2 lit. heine Öffnungsklausel: Danach kann eine Verarbeitung sensibler Daten auf einer unions- oder mitgliedstaatlichen Rechtsgrundlage oder aufgrund eines Vertrages mit dem Angehörigen eines Gesundheitsberufs basieren. Darüber hinaus sind die besonderen Anforderungen nach Art. 9 Abs. 3[311] zu beachten. Art. 9 Abs. 2 lit. hund Art. 9 Abs. 3bilden daher eine einheitliche Regelung.[312]
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